Sozialraumorientierte Pastoral

Den Menschen Hilfe anbieten

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Ob es ein Paketshop, ein Stadtteilcafé oder der Einsatz im Altenheim ist – viele Gemeinden überlegen, wie sie sich in ihrem Wohngebiet engagieren können. Das sei „sozialraumorientierte Pastoral“, sagt Theologieprofessor Martin Lörsch. Und erklärt im Interview, was dafür wichtig ist.


Auch eine Unterstützung für Obdachlose und Bedürftige kann ein Einsatzfeld sein – je nachdem, welche Sorgen die Menschen im Gemeindegebiet so haben. Foto: Caritas Berlin

Was meinen Sie, wenn Sie von „sozialraumorientierter Pastoral“ sprechen?

In der sozialraumorientierten Pastoral geht es darum, mit den Augen Jesu auf die Wirklichkeit vor Ort zu schauen und sich als Kirchengemeinde für die Menschen zu engagieren, die auf ihrem Gebiet wohnen, in ihrem Stadtteil, in ihrem Dorf. Kernpunkt ist, mit ihnen gemeinsam ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Interessen und Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner stehen dabei im Vordergrund.

Zum Beispiel?

Das kann der Beitrag der Gemeinde zur Öffnung eines Altenheims sein oder zur Integration einer anderen sozialen Einrichtung. Manchmal sind die Orte offensichtlich, an denen man sich engagieren sollte, manchmal müssen sie geschaffen werden, zum Beispiel die Einrichtung eines Stadtteil-Cafés, in dem sich Bewohner zwanglos treffen können und wo sie Menschen begegnen, die ihnen einfach zuhören. Immer geht es darum, die Stärken der Einzelnen und des Quartiers zu aktivieren. Menschen in ungünstigen Lebenssituationen werden dabei ermutigt, die Veränderungen in ihrem Wohngebiet selbst in die Hand zu nehmen.

Warum ist das eine Aufgabe für eine Kirchengemeinde?

Wir sind ja nicht Kirche für uns selbst, sondern sollen hinausgehen, auf die Menschen zu, ihre Sorgen und Nöte sehen. Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils sind dafür eine gute Grundlage. Wir dürfen uns dabei bewusstwerden, dass Gott uns an diesen Ort gestellt hat.

Sich öffnen für die Menschen, die nicht unbedingt dazugehören – für manche Gemeinde kann das eine Wendung um 180 Grad bedeuten.

Deshalb hilft es, wenn es zuvor eine Grundsatzentscheidung des Bischofs und des Bistums gibt und gute Rahmenbedingungen geschaffen werden. Wir wollen uns den Menschen zuwenden, wollen missionarisch und diakonisch sein. Im Bistum Trier gab es 2013 bis 2016 eine Diözesansynode, in der dieser Perspektivwechsel vorgenommen worden ist und deren Beschlüsse der Bischof dann in Kraft gesetzt hat. Unter dieser Voraussetzung muss eine Pfarrei dann aber auch bereit sein, konkrete Schritte zu tun.

Wie kann das geschehen?

Zunächst sollten Gemeindevertreter sehen, welche Sorgen die Menschen auf ihrem Gebiet haben. Dabei sollte man unbedingt den Kontakt zur verbandlichen Caritas suchen und die Zusammenarbeit vereinbaren. Zuerst sollte man Kontakt mit den Betroffenen aufnehmen und sie nach ihren Lebensbedingungen, Sorgen und Anliegen befragen. Zum anderen ist der Kontakt zu kommunalen Stellen unverzichtbar, zum Beispiel das Gespräch mit dem Bürgermeister. Für dieses Vorhaben braucht es Menschen, die Lust haben, die Federführung für diesen pastoralen Weg zu übernehmen. Bei uns sind das nicht selten Ständige Diakone.

Welche Hürden können dabei im Weg stehen?

Die Grundsatzentscheidung, in dieser Weise auf Menschen zuzugehen, erfordert sicherlich eine Abkehr von einer gewissen Bequemlichkeit. Und es gilt, eine Angst vor allem Fremden zu überwinden. Eine Gemeinde sollte deshalb nicht plötzlich komplett umschwenken, sondern den Prozess, der auch ein geistlicher Prozess ist, gut vorbereiten.

Und was könnte ein Gewinn sein?

Die Gemeinde wird Menschen kennenlernen, die bisher kaum oder gar nicht präsent waren – und in denen man auch Gott entdecken kann. Das ist ja unser Auftrag als Kirche, die Frohe Botschaft, die wir für uns erkannt haben, anderen weiterzuerzählen. Die sozialraumorientierte Pastoral will nicht in erster Linie unsere Kirchen und die Gottesdienste wieder füllen. Sie will vielmehr Menschen mit Jesus und seiner Frohen Botschaft in Berührung bringen. Wenn die Gemeinde mit den anderen so in Beziehung tritt, wird das Auswirkung auf die Gottesdienste haben. Menschen werden dann mitbekommen, dass sie willkommen sind und dass im Gottesdienst auch ihre Leben und ihre Themen vorkommen.

Mit welchen Konsequenzen müssen Gemeinden rechnen?

Sie können mit Sicherheit davon ausgehen, dass es Konflikte und Machtkämpfe innerhalb der Gemeinde geben wird. Das ist immer so, wenn Gewohnheiten aufgegeben werden. Die einen finden die neue Ausrichtung gut und werden sich engagieren, die anderen fürchten die Veränderungen. Solche Prozesse wollen gut moderiert sein. Letztlich kann es auch ein Lackmustest sein für die Frage, warum ich mich in meiner Kirche engagiere: Menschen mit den Augen Jesu zu betrachten und aus diesem Grund, zu helfen oder eine Religiosität zu pflegen, die ich eine „Wohnzimmerfrömmigkeit“ nenne.

Ist der soziale Einsatz in der Stadt leichter als auf dem Land, wo die Welt scheinbar noch in Ordnung ist?

In der Stadt mögen sich soziale Probleme vielleicht eher aufdrängen, aber wer hinter die Kulisse eines Dorfes blickt, findet sie auch dort. Sicherlich versteckt sich Armut auf dem Dorf mehr als in der Stadt. Aber umso wichtiger ist es doch, auch dort genau hinzusehen, den Menschen Hilfe anzubieten und mit ihnen Wege zu einem „guten Leben und Zusammenleben im Dorf“ zu erkunden.

Interview: Matthias Petersen