Wie werden junge Menschen eigenständig?

Der Schubs aus dem Nest

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„Hotel Mama“ liegt im Trend: Noch nie war die Zahl der jungen Erwachsenen, die zu Hause leben, so hoch wie heute. Die Gründe sind vielfältig, aber klar ist: Ohne Auszug gibt es keine echte Ablösung von Eltern und Kindern. Ein paar Tipps, wie Nesthocker eigenständig werden.


Zu bequem sollten es Eltern ihren erwachsenen Kindern nicht zu Hause machen – dann zögern sie ihren Auszug unnötig lange hinaus. Foto: imago/imago/Westend61

Selbstständig werden – das steht für viele junge Menschen, die im Sommer ihre Schul- oder Ausbildungszeit beendet haben, ganz oben auf der Wunschliste. Oft ist der neue Lebensabschnitt mit einem Auszug aus dem elterlichen Haus verbunden, mit einer neuen Aufgabe, einer neuen Umgebung, neuen Kollegen und Lebensumständen. Einigen fällt das leicht, andere tun sich schwer damit.


Erfahrungen einer Studentin
Selbstständig werden – Kathleen Wystrach hat das als „extrem schwer“erlebt. Vor zwei Jahren hat die heute 24-jährige Studentin ihr erstes eigenes Zimmer im Studentenwohnheim bezogen. Sie erinnert sich noch genau: „Am Anfang habe ich wegen allem zu Hause angerufen: Kochen, Waschen, Einkaufen. Das musste sich erst entwickeln. Heute sage ich: Es ist total schön, sein eigenes Reich zu haben. Der Auszug war sehr wichtig für meine Entwicklung. Man reift ganz anders, kommt aus der geschützten Hülle heraus. Das muss man machen. Meine Eltern haben mich sehr unterstützt.“


Aus der alten Rolle herauskommen
Kinder müssen flügge werden.  Bleiben sie zu lange im Elternhaus, kommen weder sie noch ihre Eltern aus ihren Rollen heraus. Seit 1980 hat sich aber die Zahl der jungen Menschen in Deutschland verdoppelt, die noch zwischen 18 und 25 Jahren zu Hause wohnen. So hohe Werte gab es noch nie. Neben gestiegenen Lebenshaltungskosten und Mietpreisen,  langen Ausbildungszeiten und unsicheren Arbeitsmarktaussichten sind dabei oft auch die Eltern ein Teil des Problems. Viele lassen nicht los – manchmal auch unbewusst: Sie waschen, bügeln und kochen weiter, machen es dem Nachwuchs zu bequem. Aber auch sie müssen für sich eine neue Rolle und neue Aufgaben finden. Ein Auszug gehört zur Ablösung von Eltern und Kindern dazu. Ist die Zeit reif, müssen Eltern, auch wenn es schwer fällt, ihren Kindern einen deutlichen Schubs aus dem behaglichen Nest geben.


Ablösung mit Weitblick
Um Kinder für die Selbstständigkeit zu stärken, sollten Eltern den Ablöseprozess schon früh einleiten. Kinder können auch schon lange vor dem18. Geburtstag feste Aufgaben im Haushalt übernehmen und sich altersentsprechend um Wäsche, Müll, Einkauf, Küche oder die Organisation ihres Alltags kümmern, betonen Erziehungsexperten. Auch eigene Entscheidungen sollten Kinder treffen dürfen. So können sie langsam in ihre Aufgaben hineinwachsen und der Schritt in die Selbstständigkeit kommt nicht über Nacht. Gerade erwachsenen Kindern sollten Eltern deutlich sagen, dass ein Auszug irgendwann ansteht und wie die Situation geregelt werden kann – vom konkreten Umzug bis zu den Finanzen.


Ein neuer Lebensabschnitt – auch für die Eltern
Klare Grenzen sind notwendig, damit sowohl Eltern als auch Kinder ein eigenes Leben aufbauen können. Zum Beispiel sei es wichtig, „dass Jugendliche miterleben, dass ihre Eltern noch andere Interessen außer ihren Kindern haben“, betont Psychologe Johannes Böhnke, Caritas-Referent in Köln, im Interview auf seiner Homepage. Auch für Eltern gilt es daher, sich neu zu organisieren, neue Aufgaben oder Hobbies zu entwickeln. Paaren, die sich stets auch um diese Dinge bemüht und immer auch mal Zeit ohne die Kinder verbracht haben, fällt es meist leichter, mit dieser neuen Situation umzugehen.


Ruhe bewahren, Konflikte zulassen
Nicht selten haben Jugendliche und Eltern unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft und geraten in Konflikt. Eine „neue Stufe der Selbstständigkeit“ nennt Böhmke diese wichtigen Auseinandersetzungen, vor denen niemand zurückschrecken sollte. Oft hätten Eltern Angst vor dem Scheitern des Kindes, hat Autorin Ulrike Bartholomäus bei den Recherchen für ihr Buch „Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann?“ (Berlin-Verlag) festgestellt. Reife brauche aber Zeit. Auch eine Auszeit sei völlig okay. „Nur monatelanges Chillen ist Gift fürs Gehirn“, betont sie und bremst zu hohe Erwartungen und zu großen Aktionismus der Eltern. Junge Menschen sollten sich ausprobieren dürfen, ist ihr Plädoyer. Viele Abgänger wüssten zunächst gar nicht, welchen Beruf sie ergreifen sollten, welche Begabungen sie auszeichneten, „und letztlich wissen sie nicht, wer sie sind“.


Unterschiede der Generationen wahren
Wollten Kinder noch vor 20 Jahren schnell raus aus der Enge des Elternhauses, ist das Verhältnis zwischen den Generationen heute oft wunderbar freundschaftlich. Das macht den Auszug nicht leichter. Eltern surfen im Internet, zelten auf Festivals und kaufen bei H&M. Experten warnen: „Abgrenzung ist wichtig und möglich, wenn Eltern nicht auf einer Stufe mit den Kindern stehen wollen, sondern ihre Meinung vertreten und es aushalten können, dass die Kinder sie zeitweilig ziemlich doof finden,” meint Autorin Elisabeth Raffauf, in ihrem Buch „Pubertät heute“ (Beltz Verlag).

Astrid Fleute