Der Spiegel der Königin
In seinem bekannten Märchen „Die Schneekönigin“ erzählt der dänische Dichter Hans-Christian Andersen, wie das Herz eines Menschen zu Eis wird. Es ist nicht nur die kalte schöne Königin, die dafür verantwortlich ist.
„Seht! Nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt“, so beginnt das Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans-Christian Andersen. Es ist eigentlich gewöhnliches Märchen, sondern eine großartige Erzählung: Berührend, spannend, unheimlich.
Die Geschichte beginnt mit der Erfindung eines Spiegels. Dessen Eigenschaft ist, alles Schlechte zu vergrößern und alles Gute klein zu machen. Das Böse wird in diesem Spiegel noch böser, das Hässliche noch hässlicher und die Gesichter der Menschen zu widerlichen Fratzen.
Dem bösen Kobold, der diesen Spiegel erfunden hat, macht es einen Riesenspaß, in den Spiegel zu blicken. In Koboldkreisen geht die Nachricht um: Ein Wunder ist geschehen. Endlich sieht man die Welt, wie sie ist!
Nun wollen die Kobolde wissen, wie der Spiegel Gott und die Engel zeigt. Sie fliegen damit zum Himmel, aber da erzittert der Spiegel so, dass er auf die Erde fällt und in Millionen Splitter zerschellt. Diese Splitter verbreiten sich auf der ganzen Erde.
Und es geschieht, dass einem Menschen ein Splitter des Teufelsspiegels ins Auge fliegt oder ins Herz. So ergeht es dem kleinen Kai, und die Geschichte von der Schneekönigin beginnt. Das ist eine Geschichte. Aber es ist eine wahre Geschichte.
Gibt es einen Spiegel, der das Gute vergrößert?
Es gibt Zeiten, in denen besonders viele Splitter des Koboldspiegels in der Welt herumfliegen. Heute erleben wir auf fast allen Kanälen, wie der Blick durch den Zerrspiegel aussieht. In allen Dingen das Schlechte betonen, das Gute gar nicht beachten. Das ist in vielen Kreisen Mode – unter anderem in kirchlichen. „Die Menschen sind oberflächlich.“, „Der Staat tut nichts.“, „Die Medien lügen.“ Am schlimmsten ist die Kirche, die bequem auf ihrem Geld sitzt und ansonsten versagt. Der Spiegel lehrt mich, jede unbedachte Bemerkung als Beleidigung aufzunehmen; in jedem, der Gutes tun will, hinterhältige Motive auszumachen; in jeder Äußerung zu suchen: „Wo könnte ich hier bedroht sein?“
Wehe, wem der Splitter des Zauberspiegels das Herz zu Eis gefroren hat! Vielen Menschen geht es so wie dem kleinen Kai, der das Schöne und Gute nicht mehr sehen kann. Die Schneekönigin entführt ihn in ihr perfektes eiskaltes Reich. Aber da ist noch Gerda, das Mädchen. Sie macht sich auf den Weg ins Unbekannte, um Kai zu finden.
Wir könnten die Geschichte des Spiegels auch noch anders erzählen. Wir könnten erzählen von einem Spiegel, der nicht das Böse, sondern das Gute vergrößert; in dem alles Hässliche winzig klein und das kleinste Gute und Schöne groß wird. Ein Schurke, der nur ein bisschen Anstand bewahrt hat, erscheint darin als guter Mensch. Jedes verunstaltete und verzerrte Gesicht als strahlend schönes Antlitz.
Unsere Geschichte wäre noch nicht einmal erfunden. Denn durch solch einen Spiegel schaut Gott auf die Menschen. Es ist der Blick, mit dem Jesus die Aussätzigen, die Unreinen, den kleinwüchsigen Zöllner von Jericho, die blutflüssige Frau oder den Mann mit der verdorrten Hand angesehen hat. Dieser Zauberspiegel ist der Blick der Liebe. Wir können einen solchen Spiegel haben. Er ist uns gegeben. Wer hineinschaut, sieht die Welt in neuem Licht. Er hat ein Auge für das Licht, das in die Welt kommen will. Der heilige Augustinus hat diesen Wunsch in einen Gebetssatz gefasst. Er bittet: „Heile meine Augen, auf dass ich mich freue über dein Licht!“
Text: Andreas Hüser