Virus-Epidemien in Kunst und Literatur

Die Angst vor dem Unsichtbaren

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Man kann es nicht riechen, schmecken oder anfassen. Die Angst vor dem unsichtbaren Virus hat die Menschen schon immer verunsichert. Seit dem Altertum bis heute versuchen sie, das Unsichtbare in Kunst und Literatur sichtbar zu machen. 


Der heilige Sebastian betet für die Pestopfer. So versuchten Künstler,
Seuchen sichtbar zu machen: Josse Lieferinxe (1483-1508), Öl
auf Leinwand, The Walters Art Museum

Forscherinnen und Forscher des Exzellensclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster haben jetzt in einem Web-Dossier nachgezeichnet, was Schriftsteller, Maler und Geschichtsschreiber geschaffen haben, um das Unvorstellbare greifbar zu machen.

Wo heute Bilder von Militärkonvois und Särgen aus Bergamo oder Leichensäcken aus New York zum Sinnbild der Pandemie wurden – mehr als das gezackte Corona-Modell – stellten antike Schreiber wie Thukydides und Prokop oder Renaissance-Maler den Schrecken der Pest etwa in zahllos aufgestapelten Toten dar. „Der Drang, dem Unsichtbaren eine Gestalt zu geben, begleitet die Menschheit, seitdem Epidemien ihren Lebensraum bedrohen“, heißt es in dem wissenschaftlichen Dossier. 

Medizin und Kunst beschrieben die Krankheitserreger lange Zeit als „winzige Wesen“. Medizinhistorikerin Katharina Wolff dokumentiert den Weg der Medizingeschichte von der Antike bis heute, in der verschiedene Theorien über das verborgene Krankheitsgeschehen entstanden sind – mit Erklärungen von Miasmen über Pestwürmer bis zu anderen „lebenden Tierchen“ –, bis die moderne Labordiagnostik das Unsichtbare technisch wahrnehmbar machte. 

Das Virus als "winziges Wesen im Nebel"

Auch in der Literatur ist von winzigen Wesen die Rede: Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf entdeckt sie etwa im Roman „Die Jakobsbücher“ (2014) der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, in dem das unsichtbare Virus als „winziges Wesen im Nebel“ aufsteigt – und so in seiner Unsichtbarkeit zu sehen ist. 

Eine literarische Visualisierung der Pest findet sich auch in Giovanni Boccaccios „Dekameron“. Drastisch beschreibt der Autor die Pestbeulen und schwarzen Flecken der Kranken, Zeichen des nahenden Todes, und den Gestank der Leichen. Wie in der antiken Geschichtsschreibung, wird auch bei Boccaccio Politisches sichtbar: Die soziale Ordnung ist zerrüttet, und die Behörden versagen. Um es zu verschleiern, sollen Beerdigungen und Gräber geheim bleiben – Unsichtbarkeit um der öffentlichen Ordnung willen. 

Bedrohung und Schrecken kommen bei fast allen künstlerischen Seuchen-Darstellungen vor. Ethnologin Dorothea Schulz legt in ihrem Beitrag „Die unmerkliche Bedrohung“ am Beispiel der aktuellen Lage in afrikanischen Ländern wie Mali dar, wie sehr Bedrohungsgefühle auf die Unsichtbarkeit und Unfassbarkeit des Virus zurückzuführen sind. „Die Uneindeutigkeit körperlicher Zeichen, die eine Ansteckung durch das Coronavirus belegen, verstärkt bei vielen Menschen das Gefühl, jederzeit, von überall und von jedem bedroht zu sein.“ Das Ergebnis sei eine spannungsgeladene atmosphärische Mischung aus sozialer Angst und teils Weigerung, die Existenz und Bedrohlichkeit des Virus anzuerkennen. „So führt die Unlesbarkeit von Corona dazu, bestehendes soziales und politisches Misstrauen zu verschärfen.“  (vvm/maz)