Flüchtlingsdrama im Mittelmeer

Die Menschenretterin

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Es ist schmutzig, es ist laut – wenn Hanna Winter auf der „Sea Eye“ im Mittelmeer unterwegs ist, gibt es kaum Privatsphäre. Trotzdem kann sie gerade im Einsatz ihren Glauben leben. Indem sie den Geretteten ins Gesicht sieht.


Auf dem Schiff hat Hanna Winter kaum Privatsphäre. Aber sie macht die Erfahrung: „Das Gebet ist unkompliziert wie selten.“ Foto: Joe Rabe

Alarm. Mitten in der Nacht. Hanna Winter muss jetzt schnell raus aus der Koje und an Deck. Es geht um Leben und Tod. Nicht für sie selbst, sondern für die Schiffbrüchigen, die jemand im Meer ausgemacht hat. Hanna Winter ist als Volontärin auf der „Sea Eye 4“ unterwegs, einem Schiff unter deutscher Flagge, das im Mittelmeer Menschen vor dem Ertrinken rettet. Menschen, die meist von Libyen aus von Schlepperbanden in Boote gepfercht werden. Sie wollen raus aus dem Land und Eu­ropa erreichen. Jetzt will die „Sea Eye“-Crew sie an Bord nehmen – rechtzeitig, bevor das Boot womöglich doch noch kentert.

Dreimal hat die 32-Jährige ehrenamtlich einen mehrwöchigen Einsatz auf der „Sea Eye 4“ mitgemacht. Das Schiff kreuzt in den internationalen Gewässern vor der Küste Libyens, sucht nach Flüchtlingsbooten, rettet Menschenleben. Ist ein Boot entdeckt, beginnt ein gefährlicher Moment. Meist weiß niemand, in welchem Zustand sich die Schiffbrüchigen befinden. Sind sie erst kurz unterwegs und bei Kräften? Oder schon ein paar Tage auf dem Meer und ohne Trinkwasser? Und manchmal müssen sie auch erst überzeugt werden, dass es wirklich nach Europa geht – und nicht zurück nach Libyen. Eigentlich ist Hanna Winter für die Küche zuständig, jetzt, im Notfall, wechselt sie an Deck und hilft bei der Erstversorgung und der Registrierung der Geretteten.

Wahrscheinlich ist die Familie von Hanna Winter nicht ganz unbeteiligt daran, dass die Tochter sich entschieden hat, bei der Rettung von Menschen im Mittelmeer zu helfen. „Hilfe für andere wurde bei uns schon immer gelebt“, sagt Hanna Winter. Das Engagement in der katholischen Pfarrei in Uelzen in der Lüneburger Heide tat ein Übriges –Messdienertreffen, Sternsinger, Jugendarbeit, das gehörte dazu. Ebenso wie das Engagement in der geistlichen Gemeinschaft Emmanuel. „Der Kontakt zu jungen Leuten aus ganz Deutschland, die sich für die Kirche und die Gesellschaft einsetzen, hat meinen Glauben wohl durch die Teen­agerzeit gerettet“, sagt sie und lächelt dabei.

Erste Rettungsaktion läuft fast gemütlich ab

Der Glaube hatte schon früh Auswirkungen auf ihr Leben, sagt sie. So schielte sie nicht nach einem Spitzenverdienst im Job, wollte nicht ins Saus und Braus leben. Nach der Ausbildung zur Hauswirtschaftlichen Betriebsleiterin leitete sie den Hauswirtschaftsbereich und das Eventmanagement in einem kirchlichen Tagungshaus in Wien. „Anderswo hätte ich wahrscheinlich mehr verdient.“ Wichtiger war ihr, dass ihr die Arbeit sinnvoll erschien. 2015 hatte sie Kontakt zu zwei jungen Männern, die aus Syrien nach Wien geflohen waren. Beinah wären sie dabei ertrunken, „und da war mir so ein Flüchtlingsschicksal das erste Mal richtig nahe gekommen“. Das habe sie gepackt, da sei ihr die Dramatik bewusst geworden.

Einige Jahre später kündigt sie ihre Arbeit und macht sich auf die Suche nach einem neuen Engagement, bei dem sie auch helfen kann. Bei einer Dokumentation über Carola Rackete wird sie fündig. Die wird bekannt als Kapitänin, gegen die die italienischen Behörden ermitteln, weil sie mit ihrem Schiff vermeintlich widerrechtlich einen Hafen in Italien anläuft. Winter nimmt Kontakt auf zur Organisation Sea Eye und bekommt in kürzester Zeit eine Zusage. Doch noch geht es nicht auf See – Corona sorgt für eine Verzögerung. Hanna Winter rückt aus zu Einsätzen im Hafen – da darf sie zum ersten Mal das Regiment in der Kombüse übernehmen. 

Im August 2021 ist sie schließlich dabei. Das Wetter ist gut, die See entsprechend ruhig. Die erste Rettungsaktion läuft fast gemütlich ab. Die „Sea Eye 4“ stößt auf ein Boot voll junger Leute, die erst kurz auf See sind. Schnell sind alle an Bord. Bei der zweiten Mission sieht es dann anders aus. An manchen Tagen schlagen bis zu acht Meter hohe Wellen gegen das Boot. Hanna Winter wird seekrank, hat keinen Gedanken an eine entspannte Minute. Dann eine Rettungsaktion. „Das kleine Boot war schon vier Tage auf See, es gab kein Trinkwasser mehr und keine Nahrung. Alle waren dehydriert.“ Manche hatten Verätzungen der Haut – wenn sich das salzige Meerwasser mit Diesel mischt, kann das die Folge sein. Mit letzter Kraft schaffen sie es aufs Schiff, manche fallen sofort in Ohnmacht. „Sie hätten unter den Bedingungen keinen Tag mehr überlebt.“ Bei der Erstversorgung entdeckt Hanna Winter dann Wunden, die vermutlich von Folterungen stammen. „Die Menschen müssen gar nichts erzählen, diese Wunden sprechen für sich.“

"Alle Menschen gleich und von Gott geliebt"

In solchen Momenten denkt Hanna Winter manchmal an die Aussagen von Freunden, die sich ihren Einsatz kaum vorstellen können. Es ist immer laut, es gibt kaum Privatsphäre. Und es scheint auch keine Möglichkeit zu geben, den Glauben zu leben – etwa die Messe zu feiern oder sich zum Gebet zurückzuziehen. „Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Gebet unkompliziert war wie selten“, sagt Hanna Winter. „Immer, wenn ich auf Deck kam, wenn ich den Geretteten ins Gesicht gesehen habe, hatte ich den Eindruck, Gott zu begegnen. Deshalb hat dieser Einsatz viel mit meinem Glauben zu tun.“ Es sei wichtig, ihnen die Botschaft zu vermitteln, aus der heraus sie selbst ihr Leben gestaltet: „Alle Menschen sind gleich und von Gott geliebt.“

Hanna Winter verschweigt nicht die Folgen der Missionen. Wieder an Land, kann sie das Leben erst nicht genießen und findet nur schwer in den Alltag zurück. Mit der Zeit lernt sie, mit diesen Gedanken umzugehen. „Ich kann nicht 800 Geretteten meine Handynummer geben und sie weiter begleiten.“ Aber sie erzählt gerne von den Erfahrungen, macht Werbung für die Sache. Inzwischen arbeitet sie sogar hauptberuflich für Sea Eye und begleitet die Volontäre.

Matthias Petersen