Pierre Stutz

Ein langer Weg

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Pierre Stutz
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Foto: imago/Viadata

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Pierre Stutz ist in ganz Deutschland unterwegs für Lesungen, Vorträge oder Kurse. Das Bild entstand 2018 in Erfurt

Pierre Stutz ist einer der bekanntesten geistlichen Autoren. Seine Bücher sind in sechs Sprachen übersetzt, Gesamtauflage über eine Million. Glücklich war er trotzdem lange nicht – weil er nicht ehrlich war zu sich selbst.

Pierre Stutz ist Schweizer. Vor fast 70 Jahren wurde er im Kanton Aargau geboren und wuchs mit Eltern und Geschwistern in dem kleinen Ort Hägglingen auf. Und mit der Kirche. „Ich mag das Sinnliche der katholischen Kultur“, sagt er in seiner Autobiografie, die jetzt erscheint. „Kirchenräume sind für mich heilende Orte, die dem Leben einen besonderen Geschmack schenken.“

Mit anderen Kirchendingen hatte er schon als Kind Probleme, etwa mit der Beichte. „Beim sechsten Gebot, in dem es um unkeusche Gedanken geht, sage ich jedes Mal auf die Frage, ob ich etwas zu beichten habe: ‚Nichts!‘, weil ich clever beim 8. Gebot ‚Du sollst nicht lügen‘ diese Antwort als Lüge beichte. Genial?!“

Ein leidenschaftlicher Sucher nach Gott

Von Jugend an war Stutz ein, wie er sagt, „leidenschaftlicher Gottsucher“. Und so trat er im Alter von 20 Jahren gegen den Willen seiner Familie in einen Orden ein, „ein Ausdruck meiner tiefen Sehnsucht nach MEHR, die mich bis heute bewohnt und belebt“.

Trotzdem war es auch eine Flucht, weiß der Theologe heute, „eine Flucht vor meinem Ursprungsort, weil in der Enge dieses Dorfes meine Urangst, nicht zu genügen, täglich neu genährt worden wäre“. Aber auch – und jetzt kommt das eigentliche Lebensthema von Pierre Stutz – „eine Flucht vor meiner sexuellen Orientierung, weil mir all die Fragen, weshalb ich keine Freundin habe, erspart bleiben“.

Doch bis es zu dieser Selbsterkenntnis kam, vergingen Jahrzehnte. Jahrzehnte, in denen Pierre Stutz ankam, aufhörte, neu begann, wieder aufhörte, wieder neu begann – und doch das Ziel nicht fand: sich selbst.

Das erste Mal hörte nach vier Jahren auf: mit dem Kloster. Stutz begann ein Theologiestudium, wurde mit 31 Jahren in Basel zum Priester geweiht und als Jugendseelorger eingesetzt. „Ich bin dabei voll aufgeblüht“, sagt er heute. „Ich konnte nah bei den Nöten der Jugendlichen sein und mit ihnen in großer Freiheit Gottesdienst feiern.“ Einen großen „Spielraum in der Liturgie“ habe er sich erkämpft und immer alles und noch mehr gegeben: „Ich war ein Workaholic.“

Da war so ein Schrei in mir (Pierre Stutz)

Sieben Jahre später brach der Workaholic zusammen. „Die viele Arbeit war wohl auch eine Flucht“, sagt er, denn: „Da war immer so ein Schrei in mir, das Gefühl, dass ich über etwas Wesentliches nicht reden darf.“ Über seine Sehnsucht nach Liebe und seine sexuelle Orientierung.

Dabei wies ihm ein Benediktiner, der ihn nach seinem Zusammenbruch begleitete, schon damals den richtigen Weg. „Er hat mir gesagt: Sie dürfen nicht mehr zölibatär leben, Gott hat etwas anderes mit Ihnen vor.“ Aber Stutz wollte weiter Priester sein. „Und heimlich eine Beziehung zu leben, kam für mich nie in Frage.“

Also ging er einen anderen Weg und probierte es nochmal als Priester. Stutz gründete im schweizerischen Neuchâtel ein „Offenes Kloster“, eine Gemeinschaft von Frauen und Männern, auch verheirateten, die miteinander leben und Spiritualität im Alltag suchen. „Ich habe die Mystik als Schatzquelle entdeckt; vorher hatte ich für sowas keine Zeit, ich musste doch die Welt retten.“ 

Und er fing an zu schreiben. „Durch meinen Zusammenbruch ist in mir eine Schreibquelle aufgebrochen. Ich wusste: Es geht nur weiter, wenn ich viel Zeit zum Schreiben habe“, sagt er. Denn Schreiben sei für ihn „Gebet und Therapie“. Dutzende spirituelle Bücher hat Stutz seitdem geschrieben – mit über einer Million Gesamtauflage.

Zehn Jahre ging der dritte Versuch gut, aber „die Seele lässt sich nicht beirren“, sagt Stutz. Er war erfolgreich, beliebt, anerkannt – und doch depressiv. 2002 machte er Exerzitien in einem Kloster. Dort wurde ihm endgültig klar, dass er lieben will, und zwar einen Mann lieben will, und dass Gott wohl wirklich etwas anderes mit ihm vorhat als ein zölibatäres Leben. „Es fiel mir furchtbar schwer, die Gemeinschaft unseres Offenen Klosters zu verlassen“, sagt Stutz. Doch es ging nicht anders: Offiziell zölibatärer Priester sein und inoffiziell eine Beziehung leben, „das hätte ich weder mir noch meinem Mann angetan“. 
Seitdem lebt er vom Schreiben, von Vorträgen und Kursen. Und endlich mit seinem Mann Harald Weß zusammen, für den er aus der Schweiz nach Norddeutschland gezogen ist.

Dass er nicht mehr am Altar die Messe feiern darf, darunter leidet Stutz. Er empfindet sich dennoch als Priester. „Ich bin ein priesterlicher Mensch, weil ich bis heute Frauen und Männer ermutige, Erde und Himmel zu verbinden“, sagt er in der Dokumentation „Wie Gott uns schuf.“ Er ist sicher: Die Jahre, die er mit seinem Mann „gemeinsam liebend unterwegs“ ist, sind „die glücklichsten Jahre meines Lebens.

Pierre Stutz: Wie ich der wurde, den ich mag. Verlag bene. 191 Seiten, 22 Euro

Susanne Haverkamp