Die Geschichte vom Schlesischen Hans
Ein Rucksack mit Erinnerungen
Das ist die Geschichte vom Schlesischen Hans. Nach dem Krieg verlor er Zobten am Berge, aber er fand Sobótka. Am Ende war Hans-Georg Anders mit der Vergangenheit im Reinen – auch weil er spürte, wie sehr sich die Menschen in Polen für seine Erlebnisse interessieren.
Es ist nicht zu übersehen: Wir stehen im Zimmer eines Menschen, der seine alte Heimat bis in die letzten Tage seines hohen Alters im Herzen hatte und im Kopf. Eine ganze Wand mit Bildern der kleinen Stadt Zobten am Fuß des gleichnamigen Berges, der so unvermittelt aus der Ebene zwischen Breslau und Schweidnitz manchmal bis in die Wolken ragt. Zobten auf alten und neuen Fotos, Zobten als Aquarell, Zobten in Öl, Zobten überall.
Heute heißt Zobten Sobótka. Hans-Georg Anders war 16, als er und seine Familie und die anderen Deutschen nur wenige Stunden hatten, um ein paar Habseligkeiten in den Koffer zu packen und sich auf den schweren Weg nach Westen zu machen. Seit Ende des Krieges leben die Polen in Zobten. Für sie ist Anders kein Unbekannter, sondern der Schlesische Hans. Und in gewisser Weise hat er heute einen Platz in ihren Herzen.
„Leise, nachdenklich, fast melancholisch“
Die Geschichte vom Schlesischen Hans ist so untypisch, weil sie nicht von Verbitterung, Aufrechnen, Verlust und Resignation handelt, sondern von Hoffnung und Versöhnung, weil sich am Ende Menschen die Hand reichen, die hier wie dort bitteres Unrecht erlitten haben.
„Mein Vater hat seine Heimat geliebt ohne Ende“, erinnert sich seine Tochter Elisabeth Anders. „Immer wieder hat er uns Kindern erzählt, Gedichte zitiert, Lieder gesungen. In Gedanken sind wir mit ihm durch die Straßen getobt, haben mit ihm und seinen Freunden in den Gärten der Nachbarn und am Ufer der Schwarzwasser gespielt. Wenn er geredet hat, dann leise, nachdenklich, fast melancholisch.“ Es waren immer die schönen Erlebnisse. „Was sich während der Wochen abgespielt hat, als die Menschen aus Zobten in Waggons gepfercht und zunächst Richtung Hameln an der Weser transportiert wurden, behielt er für sich.“ Natürlich fährt er in den ersten Jahren zu den Treffen der Vertriebenen, und auch er redet anfangs wie die anderen nur vom Pollackengesindel. „Aber er kam nachdenklich und immer stiller nach Hause. Viel zu viel war ihm von Rache die Rede, und bald blieb er zu Hause.“ Später, 1980, notiert er über seinen ersten Besuch in der schlesischen Heimat: „Heute war ich auch in Auschwitz. Fast auf den Tag genau vor 40 Jahren ist hier der erste Transport mit 728 Polen eingetroffen.“
Ein Päckchen mit Omas Porzellan
Nach dem Krieg macht Hans-Georg Anders sein Abitur nach, studiert, wird Lehrer an einer Grundschule, kann Kinder begeistern und ihr Interesse wecken – nicht nur am Lesen und Schreiben, sondern am Leben. „Er war ein stiller Mensch, aber er hat die Menschen geliebt“, beschreibt ihn seine Tochter. So erlebt sie ihn auch auf der ersten gemeinsamen Reise in die alte schlesische Heimat – und auf den vielen anderen, die später noch folgen. „Schon ein paar mal war er allein dort gewesen, er wusste, dass kaum noch etwas so war, wie er es aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte.“ Aber das Elternhaus steht noch, es gibt die Einladung zu Kaffee und Kuchen und später ein Päckchen mit Teilen des Porzellans, das die Oma im Garten versteckt hatte.
Wie immer bei seinen Besuchen erwandert sich Hans-Georg Anders das Zobtenland. Bei einem dieser Touren kommt es zu einer Begegnung mit Folgen. Elisabeth Anders erinnert sich wie heute an diesen Tag, an dem sie ihn begleitete: „Wir stehen in der Kirche Maria Heimsuchung und beobachten eine junge Frau mit ihren Kindern, die eine lateinische Inschrift zu entziffern versucht. Mein Vater bietet ihr auf Englisch seine Hilfe an, wir kommen ins Gespräch.“ Ein Wiedersehen schon am nächsten Tag. Die junge Frau stellt sich vor als Urszula Glensk. Sie ist Professorin an der Universität in Breslau und neugierig auf diesen Mann aus Deutschland, der auf den Spuren seines Lebens unterwegs ist. Einer ihrer Studenten beschäftige sich mit der Vertreibung der Deutschen, er sei an persönlichen Erlebnissen sehr interessiert.
Wie kann man verstehen ohne Vergangenheit?
Zu Hause setzt sich Hans-Georg Anders an die Schreibmaschine und tippt Seite um Seite seine Erinnerungen, jeden Monat geht ein neuer Umschlag Richtung Breslau, adressiert an Michal Hajdukiewicz. Er, der Student, gründet in Sobótka ein digitales Archiv, sammelt Bilder, Dokumente, Aufzeichnungen der früheren und heutigen Bewohner, zu denen auch seine Familie gehört, erfährt Anders später. Die Vorfahren kommen aus Ostpolen, sind nach dem Krieg zwangsumgesiedelt, die Großmutter muss unter den Nazis Zwangsarbeit leisten. Bei einer Begegnung erzählt Michal Hajdukiewicz, woher sein Interesse rührt: Über Jahrzehnte durfte in Polen nicht über die Nachkriegsgeschichte gesprochen werden. Als das dann nach der politischen Wende ohne Zensur möglich war, merkten die Menschen, dass ihnen ihre Welt eigentlich fremd ist, weil es ursprünglich eine deutsche Welt gewesen ist. „Wie lässt sich ein Ort wie Zobten verstehen, wenn man nicht seine deutsche Vergangenheit kennt?“
Hans-Georg Anders bringt Licht in diese Vergangenheit. Seine Erinnerungen ermöglichen eine Vorstellung vom Leben in Zobten, bevor der Wahnsinn eines Krieges Polen und dann Deutschen den Boden unter den Füßen wegzog. Es ist ein großer Tag für Anders, als seine Chronik in einer festlichen Stunde in der Bibliothek von Sobótka der Öffentlichkeit vorgestellt wird – zuerst in polnischer, später in deutscher Sprache. Seine Zuhörer an diesem Abend haben ein feines Gespür für die leisen Töne, die Anders anschlägt. Jetzt hören sie aus erster Hand, wie das Leben in Zobten war, wie ein Kind das abrupte und schmerzliche Ende erlebt hat. Sie lesen, was Hans-Georg Anders über sich in seinem Vorwort schreibt: „Er verlor Zobten am Berge, aber er fand Sobótka. Er ist mit der Vergangenheit im Reinen.“ Seit diesem Abend ist Anders der Schlesische Hans.
Urszula Glensk von der Universität Breslau erinnert sich an eine der ersten Begegnungen mit Hans-Georg Anders: „Mit einer geradezu kindlichen Begeisterung kaufte er sich eine silberne Anstecknadel mit dem Zobten-Bären für seine Jacke.“
Einen Zobten-Bären stellten die Kinder auf das Grab, als ihr Vater vor zwei Jahren starb. In die Todesanzeige schrieben sie: „Der Himmel wölbt sich über’s Land. Wir alle ruhen in Gottes Hand. Lebt wohl, auf Wiedersehen. Seinen Rucksack hat er hier gelassen mit vielen Erinnerungen.“
Stefan Branahl