Eine deutsch-jüdische Freundschaft ermöglicht Wiederaufbau der Michaeliskirche
Ein Sohn des verfolgten Volkes
Vor 75 Jahren lag Hildesheim in Schutt und Asche. Von den Bombenangriffen der Alliierten wurde auch die Michaeliskirche stark zerstört. Dass sie wieder aufgebaut wurde, ist auch dem Einsatz des jüdischen Amerikaners Bernard R. Armour zu verdanken. An dieses bewegende Kapitel einer frühen deutsch-jüdischen Freundschaft erinnert eine Gedenktafel im Kirchenschiff der romanischen Gottesburg.
„Der Wiederaufbau nach 1945 wurde gefördert von Mr. B. R. Armour, USA, einem Sohn des verfolgten Volkes.“ Die kleine Tafel, die nahe dem historischen Grundstein von 1010 an der Westseite angebracht ist, gehört zu den zentralen Stationen, wenn Pastor Dirk Woltmann durch die mittelalterliche Michaeliskirche führt. „Diese Gedenktafel ist mir besonders wichtig“, betont der Gemeindepastor. „Denn sie erzählt die Geschichte von einem Juden aus den USA, die schon ziemlich unglaublich ist.“ Es ist die Geschichte einer ungewöhnlichen deutsch-jüdischen Freundschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Holocaust. Damals half ein amerikanischer Jude der christlichen Gemeinde beim Wiederaufbau ihrer Kirche und verwies dabei stets auf die biblische Botschaft von Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit.
Die mächtige Michaeliskirche, die der kunstsinnige Bischof Bernward vor mehr als 1000 Jahren in Sichtweite zum Dom als seine Grablege erbauen ließ, wurde wenige Wochen vor Kriegsende von den Bombenangriffen der Alliierten zerstört. Das Meisterwerk frühromanischer Baukunst lag in Trümmern, nur die weltberühmte Holzdecke aus dem frühen 13. Jahrhundert hatte man rechtzeitig ausgebaut und eingelagert.
Die Bomben fielen am 22. März 1945 – an einem sonnigen Frühlingstag. Hildesheim brannte, eine Rauchwolke verfinsterte den Himmel. Von der Zerstörung berichtete auch der damalige Gemeindepastor der Michaeliskirche Kurt Degener in einem Brief an seinen Bruder Fritz, der in Amerika lebte: „Solche Bomben haben ja eine unbeschreibliche Kraft und Wucht. Man ist wehrlos, man kann nichts machen. Zu allem Überfluss hatte sich in das alte Kloster hinter unserem Hause, in dem früher eine Irrenanstalt war, eine S.S.Führerschule für ausländische S.S.Führer niedergelassen. So fielen die Bomben immer in unmittelbarer Nähe.“
Gleich nach Kriegsende setzte sich der Hildesheimer Gemeindepastor Kurt Degener entschlossen für den Wiederaufbau des Gotteshauses ein, er hatte ehrgeizige Pläne. Auch die Gemeinde wünschte sich die Kirche zurück, selbst in den umliegenden Dörfern wurde Geld für das kostspielige Projekt gesammelt. Doch es reichte nicht. Deshalb erhoffte sich Kurt Degener finanzielle Hilfe aus den USA und wandte sich an seinen Bruder Fritz, der 1930 ausgewandert war. Der Geschäftsmann stellte schließlich den Kontakt zu Bernard R. Armour her, einem befreundeten Chemiefabrikanten mit guten Kontakten zu führenden politischen und militärischen Kreisen der USA.
Der liberale Jude Bernard Armour zeigte sich gerührt vom Engagement des Hildesheimer Pastors, offenbar sah er in Kurt Degener einen Vertreter jener Deutschen, die in der Tradition Kants, Heines und Schillers stehen. Armour schrieb in einem seiner Briefe, er wolle mit seinem Engagement einen Beitrag zum Frieden leisten und Deutschland auf „seinem Weg zur ’Anständigkeit‘ („back to the paths of decency“) helfen“. Der Hildesheimer Historiker Manfred Overesch hat den intensiven Briefwechsel vor einigen Jahren herausgegeben. Armour schickte Geld und Baumaterial. Und Care-Pakete mit Zucker, Mehl und Kaffee für die Hildesheimer und ihre Familien, die am Wiederaufbau von St. Michael beteiligt waren. Allein das war für viele ein Segen. Der erste Gottesdienst in der Michaeliskirche wurde im Mai 1947 gefeiert, damals standen nur die Außenmauern, im November bereits wurden das Mittelschiff und die Seitenschiffe eingedeckt.
Bernard Armour, der in den 1920er-Jahren kurze Zeit in Berlin und Dresden gearbeitet hatte, versprach sogar, den gesamten Wiederaufbau der Kirche zu finanzieren – veranschlagt waren zunächst rund 1,2 Millionen Reichsmark. Er schrieb auch einen leidenschaftlichen Brief an den damaligen hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje: „St. Michael soll ein Turm des Lichtes für Deutschland und Amerika sein, es soll den Geist der Nächstenliebe und des guten Willens dem Mitmenschen gegenüber verkünden, wie es der Allmächtige uns lehrt; denn die wirkliche Auffassung des Begriffs ’Brüderliche Gemeinschaft‘‚ kommt genauestens in den religiösen Offenbarungen der Bibel zum Ausdruck.“
Ähnlich bewegt klingen seine Briefe an Pastor Degener: „Ich erinnere mich, als ich ein kleiner Junge war, dass meine Mutter mir einen Teil der Bibel vorlas, welcher mir so nachdrücklich darlegte, dass Buße, Gebet und Nächstenliebe die ganze Menschheit erlösen wird zur größeren Lebensfreude und Brüderlichkeit der Menschheit.“
Maria-Elisabeth Hansch, die jüngste Tochter Kurt Degeners, erinnerte sich noch Jahrzehnte später an den Geldgeber aus Amerika und den Wiederaufbau der Kirche. In den frühen Nachkriegsjahren war sie noch ein Kind: „Für mich war Mr. Armour wie der liebe Gott, der alles für uns richten kann.“ Im Pfarrhaus sei jedoch nie darüber gesprochen worden, dass Bernard Armour Jude war, Pastor Degener hielt sich bedeckt. Es war die Zeit des Schweigens – und der Scham. Durfte ein Deutscher nach dem Holocaust Hilfe von einem Juden annehmen? Auch in den zahlreichen Briefen zwischen Kurt Degener und Bernard Armour wurde diese Frage ausgeblendet. Keiner von beiden ging auf die Gräueltaten des NS-Staates ein – für einen solchen Dialog war die Zeit damals offenbar noch nicht reif.
Den letzten Brief an den Freund und Gönner in New York mit der Bitte um weitere finanzielle Hilfe schrieb Kurt Degener im Februar 1949. Eine Antwort blieb jedoch aus, denn Bernard Armour verstarb noch im selben Jahr. Obwohl er aus den USA hunderte Pakete und um die 80 000 DM auf den Weg gebracht hatte – als Anschub zum Wiederaufbau der Michaeliskirche –, wurde Bernard Armour in Hildesheim zunächst vergessen.
Erst mehr als drei Jahrzehnte später, als die evangelische Michaeliskirche mit ihrer katholischen Krypta im Westchor zusammen mit dem Dom und dem Domschatz zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt wurden, erinnerte man sich wieder an diese frühe christlich-jüdische Begegnung und auch daran, dass sich Bernard R. Armour eine Gedenktafel in St. Michael gewünscht hatte. Bis heute bezeugt diese Tafel einen beeindruckenden Weg christlich-jüdischer Verbundenheit – und einen Dialog, der in die Zukunft weist.
Karin Dzionara
Tag des Denkmals
Am 13. September findet der Tag des offenen Denkmals statt, angesichts der Corona-Pandemie wird er jedoch ausschließlich digital begangen, es finden keine Führungen oder Aktionen statt. Die Michaeliskirche ist für Einzelpersonen (nicht für Gruppen) an diesem Tag von ca. 11 bis 18 Uhr geöffnet, außerdem Montag bis Freitag von 10 bis 16 Uhr und Samstag von 10 bis 18 Uhr.