Interview mit Weihbischof Nikolaus Schwerdtfeger
Es gab viel Schönes in diesen Jahren
Am 23. September 1995 empfing Nikolaus Schwerdtfeger im Hildesheimer Dom die Bischofsweihe. Seit 25 Jahren wirkt er nun als Weihbischof im Bistum. Das Weihejubiläum wird am 26. September im Dom gefeiert.
Haben Sie, als Sie sich für den Priesterberuf entschieden haben, daran gedacht, einmal in der Kirche eine solche „Karriere“ zu machen?
So ähnlich werde ich oft auch von Jugendlichen gefragt, die ich vor der Firmung treffe, und antworte ihnen: Es gibt Vorschläge und Fragen, die man sich selbst nicht wünscht, aber wenn sie gestellt sind, muss man darauf antworten. So habe ich es dann auch nach einem Klärungsprozess getan. Meine Antwort kennen Sie.
Als Weihbischof und als Administrator in der Zeit der Bischofsvakanz zwischen Bischof Norbert und Bischof Heiner haben Sie die ganze Bandbreite des Bischofsamtes kennengelernt. Was verbinden Sie mit dem Amt?
Meinen Dienst suche ich vor allem an den vier Kennzeichen von Kirche zu orientieren, wie sie die Apostelgeschichte in Kapitel 2, Vers 42 benennt: die Verwurzelung im Evangelium, die Gemeinschaft untereinander, das Brotbrechen und das Gebet.
Die entscheidende Richtschnur für mich und unseren kirchlichen Weg überhaupt ist das Evangelium, das ich bei vielen Gelegenheiten für unsere Zeit zu erschließen suche. In ihm ist unsere kirchliche Gemeinschaft grundgelegt, und der spezifische bischöfliche Dienst ist es, sie gerade in ihrer Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit zusammenzuhalten. Dabei nährt uns auf unserem gemeinsamen Weg insbesondere die Eucharistie, die uns aus dem Ostergeheimnis leben lässt und zur Quelle sozialen Handelns werden muss, woran zumal Bischof Josef immer wieder erinnert hat; denn Kirche ist mehr als Gemeinde. Meine Frage ist, wie uns das heute angesichts des Strukturwandels der Pfarreien gelingen kann. Und immer wieder geht es um das Gebet. Bei Firmungen rege ich oft ganz schlicht an, den Tag mit Gebet zu beschließen, damit er nicht trivial verlischt. Das ist mir ein wesentliches Anliegen. „Denn wir essen Brot, aber wir leben von Glanz.“ – hat Hilde Domin einmal gesagt.
Wenn Sie auf die 25 Jahre als Weihbischof bei uns im Bistum zurückblicken, was waren für Sie Höhepunkte oder auch Momente des Zweifelns, der Unzufriedenheit?
Es gab ausgesprochen viel Schönes in diesen Jahren. Ich denke etwa an die Feier des Heiligen Jahres 2000 oder an die EXPO 2000 vor meiner Haustür; an die großen Bistumsfeste, wie die Einführung von Bischof Norbert und die Weihe von Bischof Heiner; die Neueröffnung unseres Domes und das gelungene Bistumsjubiläum. Ich denke an die Chrisam-Messe, die Jahr für Jahr junge und junggebliebene Menschen anzieht. Viele einzelne Begegnungen fallen mir ein, etwa bei Pastoralbesuchen, Firmungen oder Wallfahrten. Ich denke auch an weltkirchliche Erfahrungen, die ich machen durfte: die Begegnungen mit der Kirche Boliviens im Rahmen unserer diözesanen Partnerschaft; die Begegnungen mit den drei Päpsten Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus bei den Ad limina-Besuchen in Rom oder die Weltjugendtage in Rom, Toronto und Köln, bei denen auch das junge Gesicht der Kirche sichtbar wurde. Ich denke an das Reformationsgedenken 2017 mit der verbindenden ökumenischen Reise ins Heilige Land und dem bewegenden Versöhnungsgottesdienst in St. Michael.
Ein großer Einbruch war allerdings die Aufdeckung des Missbrauchsskandals 2010 in unserer Kirche und das bedrückende Geschick der durch sexualisierte Gewalt Betroffenen. Das lastet weiterhin.
Und wie sah das in Ihrer Zeit als Administrator aus, gab es Entscheidungen, die Sie vielleicht lieber vermieden hätten?
Als ich zum Administrator gewählt wurde, wusste ich, dass eine meiner ersten und schwierigsten Aufgaben sein würde, die von Bischof Norbert in Auftrag gegebene IPP-Studie öffentlich vorzustellen. Und natürlich gab es dann und wann Gespräche und Personalentscheidungen, die ich mir nicht unbedingt gewünscht habe.
Was hat sich aus Ihrer Sicht in den letzten drei Jahrzehnten positiv oder negativ in der Kirche verändert?
Um noch einmal beim Vorherigen anzuknüpfen: Es ist gut, dass Bischof Heiner und überhaupt die Bischofskonferenz das Leid durch sexualisierte Gewalt in der Kirche und die daraus zu ziehenden Konsequenzen weiterhin intensiv thematisieren. In diesem Zusammenhang finde ich es beachtlich, wie wir in den letzten Jahren etwa die Präventionsschulung vorangebracht haben – in besonderer Achtsamkeit und Sorge für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern.
Positiv sehe ich das anhaltende Bemühen, die heutige kirchliche Situation gemeinsam zu gestalten. Ein etwas zugespitztes angelsächsisches Diktum hat seinerzeit die durch das Zweite Vatikanische Konzil wiedergewonnene Sicht von Kirche als Volk Gottes so zusammengefasst: Not the shepherds make sheep, sheep make sheep. – Nicht die Hirten machen Schafe, sondern Schafe machen Schafe. – Nach meinem Eindruck ist bei uns das Bewusstsein gewachsen, dass nicht nur die Hirten, die Pastoren, sondern alle Getauften miteinander für die Weitergabe des Glaubens und die Lebendigkeit der Kirche verantwortlich sind. Das ist die Grundlage für die „Lokale Kirchenentwicklung“. Ich habe das immer wieder erlebt, wenn ich bei meinen Pastoralbesuchen etwa zu einem Geistlichen Wochenende für Ehrenamtliche eingeladen habe, zu dem in der Regel zwanzig bis fünfzig Teilnehmer gekommen sind – mit einer hohen Motivation. Und die vielen Katecheten und Katechetinnen, alle, die sich in der Liturgie oder für die Bewahrung unserer Schöpfung einbringen, wären hier zu nennen. Und es gibt noch so viele andere, die aus christlichem Geist Aufgaben übernehmen. All diese Engagierten sind ein Schatz für die ganze Kirche.
Gab es auch Negatives?
Besonders getroffen hat mich diesmal die Nachricht von den Kirchenaustritten im Jahr 2019. Rund eine halbe Million Christen aus den beiden großen Kirchen. Das ist mir richtig nachgegangen. Manchmal denke ich bei solchen leider nicht zu übersehenden Entwicklungen, die ja auch vor Ort zu spüren sind, an das letzte Kapitel des Johannes-Evangeliums im Kapitel 21. Da gehen die Jünger nach Ostern wieder fischen, als wenn nichts gewesen wäre. Und ihre Netze bleiben leer. Aber dann heißt es da auch: Als schon der Morgen dämmerte, stand Jesus am Ufer. Und ich versuche mich daran zu halten, dass auch heute der Auferstandene gegenwärtig ist.
Theologie und Seelsorge sind und waren für Sie immer wichtige Komponenten Ihrer Arbeit. Welcher würden Sie gern den Vorzug geben?
Karl Rahner hat einmal gesagt: Gute Theologie dient am stärksten der Verkündigung. Ich glaube, die kraftvolle Verbindung von Theologie und Seelsorge bewahrt uns davor, dass unsere Pastoral zu kurzatmig wird.
Dass Ihnen die „Seel-Sorge“ am Herzen liegt, sieht man auch daran, dass Ihnen der Kontakt zu den Menschen wichtig ist, die die Kirche verlassen. Warum?
Ja, ich habe in den letzten Jahren während meiner Pastoralbesuche immer wieder Menschen zum Gespräch eingeladen, die aus der Kirche ausgetreten sind. Ich will dabei hören, warum sie diesen Schritt getan haben und was wir als Kirche von ihnen lernen können. Mich hat überrascht, dass nicht selten ein wichtiges Motiv für den Austritt ein mangelndes Willkommen seitens der Gemeinde war. Bei diesen Gesprächen oder Mail-Kontakten habe ich den Eindruck, dass sie oft auch der Versöhnung mit dem eigenen Lebensweg dienen, weil sie Raum geben, die eigenen Beweggründe gegenüber einem Vertreter der Kirche zu benennen. Eine Frau schickt mir seit sechs Jahren zu jedem Weihnachtsfest eine Karte, obschon sie wohl kaum wieder in die Kirche eingetreten ist.
Corona ist das Thema, das uns nun schon ein halbes Jahr begleitet und einschränkt. Normalität ist anders, auch in der Kirche. Manche, gerade ältere und kranke Menschen, haben sich von der Kirche im Stich gelassen gefühlt. Hat sich die Kirche richtig verhalten?
Die zugespitzte Situation im Frühjahr habe ich als ein Dilemma empfunden. Auf der einen Seite müssen wir auf ein kluges Verhalten bedacht sein – aus Verantwortung für andere. Auf der anderen Seite sollen wir nahe bei den Menschen sein – und gerade die Sakramente sind etwas Leibhaftiges. Beides zusammenzubringen war nicht einfach. Ich habe aber auch von verschiedenen Geistlichen erfahren, dass sie einen guten Weg finden konnten.
Nach 25 Jahren Firm- und Pastoralbesuchen im Bistum – würden sie sagen, dass Sie das ganze Bistum kennen? Oder gibt es noch weiße Flecken auf der Bistumskarte, die Sie noch nicht besucht haben?
Da sich Kirche und Gemeinde ständig ändern, entwickeln sich immer wieder neue weiße Flecken. Aber insgesamt kenne ich unser schönes Bistum ganz gut.
Zurzeit befindet sich die katholische Kirche in Deutschland auf dem Synodalen Weg. Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, damit die Kirche zukunftsfähig wird, aber sich nicht selbst aufgibt?
Ich glaube, dass der Synodale Weg notwendig, wenn auch nicht hinreichend ist. Es haben sich eine Reihe von Problemen aufgestaut, die sich nicht dadurch lösen, dass man so tut, als gäbe es sie nicht. Gleichwohl ist unsere heutige Krise tiefer, als dass sie schon mit der Klärung der vier großen Themen dieses Prozesses gelöst wäre. Das zeigt ein Blick auch in die evangelische Kirche, die wie wir von der Grundfrage herausgefordert ist, wie der Glaube an Gott heute plausibel zu machen und vor allem zu leben ist.
Interview: Edmund Deppe