Im Gespräch mit einer Seelsorgerin
Etwas Neues wagen
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Siri Fuhrmann begleitet als Seelsorgerin Patientinnen zweier Kurkliniken der Caritas auf der Insel Norderney. Oftmals kommt in ihren Gesprächen mit den Frauen zwischen Ende 20 und etwa 70 Jahren das Thema Verlust zur Sprache – Verlust durch den Tod von Partner und Angehörigen, aber auch durch das Ende einer Beziehung. Gleichzeitig ist in den Gesprächen auch der anstehende Neuanfang ein Thema. Im Interview erzählt Siri Fuhrmann, was einen Neuanfang ausmacht und warum es auch Wagemut braucht, damit er gelingt.
Welche Voraussetzungen braucht es für den Neuanfang?
Wenn ich auf die Frauen schaue, die mit einem aktiven Veränderungswunsch kommen, die also eine Sehnsucht spüren, dann braucht es dafür Aufmerksamkeit. Denn Sehnsucht ist Motor für die Veränderung. Diese Kraft bringt mich auch durch Täler durch. Nötig ist auch eine aktive Entscheidung, eine Entschiedenheit, Ja zu sagen zu dem, was möglicherweise als Stolperstein auf meinem Weg liegt. Entschiedenheit ist auch wichtig, um nicht Opfer der Verhältnisse zu werden, sondern um aktiv Veränderung anzugehen. Und hilfreich ist Wagemut. Wenn ich mit Bedenken an eine Veränderung gehe, fällt diese oftmals schwerer, als wenn ich sage: wird schon!
Ein Neuanfang in der Mitte des Lebens – geht das überhaupt?
Ich arbeite auf der Insel Norderney. Es ist für viele attraktiv, auf Inseln zu leben, und manch einer träumt von einem Aussteigerleben und Neuanfang auf der Insel. Aber ich habe schon viele Leute auch wieder gehen sehen, weil sie mit dem speziellen Alltag hier nicht zurechtkommen. Denn das Wasser ist gefühlt immer da und man kommt nicht so leicht weg. Die Menschen, die sich einen Neuanfang wünschen und dann frustriert sind, müssen bedenken, dass man sich mit seinem ganzen Sein und seinen ganzen Problemen immer mitnimmt. Auch wenn ich einen Neuanfang mache, komme ich nicht komplett neu, sondern ich bringe meine Geschichte mit. Ich wage etwas Neues, aber ich bin die, die schon 47 Jahre gelebt hat. Und ich gehe das Neue auch mit meinem Erfahrungsschatz an – was gut ist.
Aber aus meinem Klinikalltag weiß ich, dass die Patientinnen selten so reflektiert kommen, dass sie sagen: Ich komme, weil ich einen Neuanfang vor mir habe. So verkopft läuft das meistens nicht.
Eher eine Bauchsache …
Naja, es dreht sich viel um die Frage: Nehme ich aktiv an, was das Leben mir als Aufgabe stellt. Es ist eine große Verantwortung Ja zu dem zu sagen, was das Leben mir als Verantwortung abringt.
Will sich der Mensch vielleicht gar nicht so sehr verändern und neu anfangen, sondern die Herausforderungen kommen von außen?
Das kann man nicht generell sagen. Es besteht einerseits ein aktiver Veränderungswunsch: Da gibt es mehr im Leben. Da ist dann so eine Sehnsucht, die spürbar wird, die mich antreibt, noch mal etwas Neues zu wagen. Diesen Teil gibt es. Aber es gibt auch Neuanfänge, die aus Nöten geboren werden. Das fühlt sich natürlich unterschiedlich an.
Man muss bereit sein, sich als Person verändern zu wollen. Nur ein Tapetenwechsel reicht also nicht?
Es kann sein, dass die innere Unzufriedenheit der Motor ist, sich radikal zu verändern. Aber die Unzufriedenheit kann ja bleiben. Oder sich nach kurzer Zeit wiedereinstellen, wenn der Zauber des Neuen verklungen ist. Und dann sollte man sich schon fragen, ob das Mindset, das ich im Leben habe, das richtige ist.
Es gibt das vielzitierte Wort von Hermann Hesse „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne …“ Was denken Sie, stimmt diese Aussage denn?
Ja, das würde ich schon sagen, dass es für den ersten Moment wahr ist. Aber Anfänge dauern eben nicht ewig.
Und der nächste Schritt ist dann?
Ernüchterung. Und diese Ernüchterung braucht einen nüchternen Blick auf die Grenzen, die diese neue Lebensweise mit sich bringt. Das ist, wie wenn man sich neu verliebt: Da ist am Anfang die rosarote Wolke und alles ist wunderbar. Und irgendwann stellt man fest, auch der neue Partner lässt seine Socken liegen, genauso wie der vorher. Da gibt es Momente der Ernüchterung und man muss sich fragen: Was schätze ich weiterhin an ihm?
Kann man einen Neuanfang erzwingen?
Es gibt einen Leidensdruck, das ist die dunkle Seite der Sehnsucht. Und der kann sehr zehrend sein. Menschen halten viel aus, bevor sie sich verändern – mit Partnern, im Berufsleben – bis sie den Schritt für Veränderung gehen. Es gibt eine hohe Verantwortung für das, was da ist.
Wenn Menschen Dinge im Leben verändern wollen – wie kann man sie als Freunde oder Familie unterstützen?
In Familie steckt oftmals eine Beharrungskraft. Also die Familienmitglieder möchten oftmals, dass alles so bleibt, wie es ist. Wenn man dem Menschen, der sich verändern möchte, wohl will, ist es gut, erst mal wohlwollend schweigend dabeizubleiben und es geschehen zu lassen.
Veränderung im Leben bringt mit sich, dass man andere vor den Kopf stößt. Kann man dies verhindern? Oder gehört es einfach dazu?
Ob man das ganz verhindern kann, weiß ich nicht. Die eigene Veränderung bringt mindestens eine Irritation des Umfelds mit sich. Das muss aber nicht schlimm sein, sondern kann neue Bewegung in die Beziehungen bringen, die man mit den Menschen pflegt. Es ist eben ein bewegliches System: Bewege ich mich, müssen sich die andern auch bewegen, wie bei einer Waage. Sonst kommt diese aus dem Gleichgewicht.
Wie kann der Glaube helfen, sich zu verändern und einen Neuanfang zu wagen?
Der Glaube ist auf jeden Fall eine Ressource, um Veränderung anzugehen. Und ich finde auch, dass der christliche Glaube sich wunderbar dazu eignet, Neuanfänge zu gestalten. Weihnachten zum Beispiel ist ein Fest, in dem ein neuer Anfang gefeiert wird. Da passiert etwas radikal Neues: Gott wird Mensch. Das hat es vorher ja noch nie gegeben. Das ist ohnegleichen. Und dieses Ohnegleichen gibt es an mancher Stelle der christlich-jüdischen Spiritualität und bietet total viele Anknüpfungsmöglichkeiten.
Und wie sprechen Sie das mit Menschen an, die sie begleiten?
Bei meinen Gesprächen erlebe ich alles. Auch, dass der Glaube als ein Hindernis für Veränderung wahrgenommen wird, weil die Traditionen und Rituale den Eindruck erwecken können, es müsse immer alles so bleiben, wie es ist. Aber gerade in der geistlichen Begleitung, wenn ich Menschen in längeren Prozessen begleite, mache ich schon die Erfahrung, dass der Glaube an einen Gott, der mitgeht, durch jegliche Befindlichkeit des Lebens, dass dieser Glaube sehr, sehr trägt.