Flüchtlingspolitik und Abschottung

Europa verrät seine Werte

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Rechtspopulisten dominieren in vielen Ländern immer stärker die Flüchtlingsdebatte. Sie wollen Europa abschotten. Ein Migrationsexperte erklärt, warum das fatal ist. Er glaubt: Wenn wir unseren Kontinent aus Angst vor Migranten in eine Festung verwandeln, haben wir keine Zukunft.

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Christliche Fragen sind in der Flüchtlingsdebatte
so wichtig: eine Frau bei einer Demonstration
in Frankfurt. Foto: imago

Im Herbst 2015 hat Werner Schiffauer Hoffnung geschöpft. Damals sind Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, und viele Menschen haben geholfen. „Dieser Geist war ermutigend“, sagt Schiffauer. Natürlich hat es Probleme gegeben, natürlich hat längst nicht alles reibungslos geklappt. Aber die Menschen seien „endlich mal nicht in Angststarre verfallen angesichts der Ankunft der Fremden“, sondern sie seien aktiv geworden. Schiffauer, der Kulturwissenschaftler und Vorstandsvorsitzende im Rat für Migration, hat darauf gebaut, dass das ein Anfang sein könnte. Jetzt sagt er: „Diese Hoffnung ist schwer enttäuscht worden.“

Deutschland und Europa fragen sich kaum mehr, wie man Flüchtlingen helfen und sie integrieren kann. Sondern fast nur noch, wie man sich gegen sie abschotten kann. Etliche führende Politiker wollen unseren Kontinent zu einer Festung machen. Sie lassen Flüchtlingsschiffe nicht in ihre Häfen, sie wenden sich gegen Hilfsorganisationen, sie bauen Mauern und Zäune. Die Rechtspopulisten aus Ungarn, Österreich und Italien prägen mit ihrer flüchtlingsfeindlichen Haltung immer stärker den Ton der Debatte. Österreichs Innenminister Herbert Kickl hat sogar dafür plädiert, dass in der EU künftig keine Asylanträge mehr gestellt werden können – und damit geltendem Recht widersprochen. Auch aus der deutschen Regierung kommen dumpfe Töne.

Der Migrationsexperte Schiffauer ist entsetzt. Er sagt: „Europa zerfällt immer mehr. Europa opfert seinen Moralanspruch.“ Und er fragt: „Mit welchem Recht kann ein Europa, das nur noch Besitzstandswahrung für die eigene Bevölkerung betreibt, noch irgendeinen moralischen Anspruch gegenüber den Regimes in Russland, Syrien oder Nordkorea formulieren?“ Schiffauer merkt an, sachlich sei der starke Widerstand der Rechtspopulisten gegen die Migration kaum gerechtfertigt. Sie betrieben „eine zynische Politik mit Angstmache“. Diese Angstmache wirkt. Schiffauer erlebt eine „zunehmende Irrationalität und Panik-
rhetorik“ auf unserem Kontinent. Jeder denkt an sich. So fällt Europa zurück in eine egoistische Nationalstaatspolitik von vorgestern.


„Europa kann der Migration nicht entkommen“

Aber geht das in unserer total vernetzten Welt überhaupt: sich abzuschotten gegen den Rest der Welt? Schiffauer sagt: „Eine Festung Europa funktioniert nicht. Sie ist nur dann aufrechtzuerhalten, wenn man wirklich sämtliche Werte über Bord wirft.“ Wenn man etwa die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lässt oder gar einen Schießbefehl gibt. Diesem Punkt, sagt Schiffauer, schienen wir uns zu nähern.

Ein Europa aber, das seine christlichen Grundlagen verrät, hätte nichts mehr mit dem Europa zu tun, das wir bisher kannten. Eine Zukunft, sagt Schiffauer, hätte es auch nicht: „Europa kann der Migration nicht entkommen.“ Wir sollten diskutieren, wie eine Gesellschaft aussehen muss, die mit zunehmender Migration konfrontiert wird. „Die Grenzen zuzumachen, wird den Druck nur zunehmen lassen. Es ist schwer vorstellbar, wie Europa sich als Wohlstandsinsel dann langfristig behaupten will.“

Von Andreas Lesch