Bischof Heiner Wilmer begegnet zwei Flüchtlingsfamilien
Fluchtschicksale zwischen Geburt und Tod
Ein Kind wird geboren, eine Frau stirbt – in den Notunterkünften der hannoverschen Messehallen begegnet Bischof Heiner Wilmer zwei Flüchtlingsfamilien und hört bewegende Schicksale.
Mira ist die jüngste Bewohnerin in der Halle 27. Sie ist gerade mal fünf Tage alt – geboren auf der Flucht kurz vor der polnischen Grenze. „Wir sind in irgendein Haus gegangen, als es so weit war“, berichtet Maria, ihre Mutter. Dort hat die 38-Jährige ihre Tochter bekommen. Allein, im Beisein ihrer Mutter Marisa und ihren vier Söhnen Michalo (9 Jahre alt), Mekita (7), Matwiy (5) und Maksim (2).
Weil sie hochschwanger war, habe die Familie lange gezögert, ihren kleinen Ort in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kyiv zu verlassen, erzählt Maria im Gespräch mit Bischof Heiner Wilmer. Zuvor hat sie sich noch entschuldigt, nicht aufstehen zu können. Sie hat gerade ihr Kind gestillt. Mira ist gerade in ihren Armen eingeschlafen. Maria lächelt. Ihre Söhne spielen im großen Eingangsbereich der Halle 27. Sie haben einen großen Gokart, ein Tretauto, zur Verfügung. Es wirkt so entspannt, nach Sonntagnachmittag, der es tatsächlich ist. Wären da nicht die Zelte der Notunterkünfte in der Halle.
Mira wird auf der Flucht geboren
Als die Situation zu gefährlich wurde, leiht sich die Familie ein Auto. Ohne Papiere, ohne Versicherung fahren sie in Richtung polnische Grenze. Der Übertritt verzögert sich, ein langer Stau, Mira kommt zur Welt. Dann fahren sie weiter nach Hamburg, weil dort bereits entfernte Verwandte untergekommen sind. Doch die Hansestadt ist voll, weiter geht es nach Hannover.
Hier findet die Familie einen Hauch von Ruhe. Feldbetten, ein Zelt, Kleidung für Mira. Doch in die Ruhe mischen sich immer Sorge und Angst um ihren Mann und um ihren Vater, die beide zurückgeblieben sind. „Wir telefonieren so oft es geht“, berichtet Maria. Ihr Mann ist derzeit in der Nähe von Lviv, wartet darauf, ob und wie er eingesetzt wird. Ihr Vater harrt im Heimatdorf aus. „Es gibt oft Alarm, auch nachts“, sagt Maria. Dann müsse schnell ein Versteck gesucht werden. Schlaf ist nur in Intervallen möglich.
Tagesablauf zwischen Handy und Geige
Ihr Mann hat Flugtechnik studiert, arbeitete zuletzt als Geschäftsführer in einem Autohaus: „Der Besitzer hat bei Kriegsbeginn den Laden zugemacht und alle Autos verschenkt.“ Sie selbst ist Architektin. „Aber jetzt ist ihr Beruf Mutter sein“, meint Michalo, der älteste Sohn. Wie er denn den Tag verbringe, fragt Bischof Wilmer nach. Er spiele auf seinem Handy oder mit den Brüdern, erzählt Michalo: „Oder ich übe Geige.“ Das Instrument habe er aus der Ukraine mitgebracht, wie sein siebenjähriger Bruder eine Flöte. Beide können bald in einer Wohnung üben, die mithilfe der ukrainischen Gemeinde St. Wolodymyr gefunden wurde.
„Ich kann mich noch gut erinnern, als ich Maria das erste Mal gesehen habe“, ergänzt Mariya Maksymtsiv, die Frau des ukrainischen Pfarrers Roman Maksymtsiv. Sie dolmetscht das Gespräch: „Maria trug ein Bündel im Arm, ich habe gedacht, das wäre ein Haustier.“ Denn nicht wenige Flüchtlinge bringen ihre Tiere mit: „Doch es war ein Neugeborenes.“ Der Name Mira ist von der Familie mit Bedacht gewählt geworden. Er leitet sich vom ukrainischen Wort für „Frieden“ ab, meint „die Friedliche“. Was für eine Hoffnung in diesen Zeiten.
Ein zweites Schicksal: Auch Nelia, 58 Jahre alt, ist geflohen. Zusammen mit ihren Töchtern Olena (39) und Jryna (34). Olena hat mit Maxim einen Sohn, der gerade drei Jahre alt geworden ist. Jryna hat drei Kinder: zwei Töchter, Erika (8) und Paulina (5) und einen Sohn, Arzen, vier Jahre alt. Mit auf der Flucht war noch ihre Mutter Valentina.
Am 10. März sind sie aus Krywyj Rih geflohen, einer Großstadt im Süden der Ukraine. Die russischen Truppen rückten von der Krim aus immer weiter an die Stadt heran, auch die Luftangriffe nahmen zu. Krywyj Rih ist Industrie- und Garnisonsstadt mit einem großen Stahlwerk.
Per Zug machten sie sich auf den Weg. Erst nach Lviv, dann in Richtung slowakische Grenze. „Die Züge waren überfüllt“, berichtet Nelia. Gerade für Frauen, die mit kleinen Kindern unterwegs sind, war es schwer, einen Platz im Wagon zu bekommen: „Alle wollten nur weg“, sagt Nelia leise.
Zwischendurch immer wieder die Suche nach einem Platz für die Nacht. Einmal übernachten sie in einem jüdischen Altersheim. Nach zehn Tagen Flucht über die Slowakei und Tschechien kommen sie in Hannover an, finden einen Platz in der Notunterkunft.
Doch gerade als sie hoffen, einen Hauch von Ruhe zu finden, der Schock: Nelias Mutter Valentina stirbt. Mit 76 Jahren. Wiederholt hat sie über Schmerzen geklagt, ein Bein ist angeschwollen. Eines Abends legt sie sich in ihr Feldbett und steht nicht mehr auf: „Sie ist im Schlaf gestorben“, sagt Nelia leise. Die Nieren haben wohl versagt. Genaueres weiß sie nicht. Auch nicht, wann und wo sie ihre Mutter beerdigen kann.
In der Halle 27 hat die Familie nun ein Zelt für sich. Eine Nacht haben noch zwei weitere Frauen bei ihnen geschlafen: „Aber die beiden haben dann anderswo ein Bett bekommen.“ Der Tod ihrer Urgroßmutter laste schwer gerade auf den Kindern. „Es geht ihnen nicht gut“, beschreibt es Nelia. Sie haben Bauchschmerzen und Durchfall, erbrechen sich. Zum Trauma der Flucht kommt das Trauma des Verlustes eines geliebten Menschen: „Wir sind so müde.“
„In welche Klasse gehst du denn“, möchte Bischof Wilmer von Erika wissen. Die Achtjährige sitzt beim Gespräch mit am Tisch. „In die dritte“, antwortet sie. Mit 31 Kindern waren sie in der Klasse. Mit Beginn des Krieges konnte sie auch nicht mehr zur Schule gehen. Sie weiß nicht genau, wo ihre Mitschüler geblieben sind: ob in Polen, in Deutschland oder noch in der Ukraine …
Bald geht es in das Burgdorfer Pfarrhaus
Jryna hat ihren Mann in der Ukraine zurückgelassen: „Er ist jetzt Lastwagenfahrer.“ Sie stehe mit ihm so gut es geht in Kontakt. Doch es bleibe die Angst um ihn. Nelia und Jryna schätzen, dass bereits große Teile von Krywyj Rih zerstört sein könnten. „Wir haben vier Wohnungen zurückgelassen“, sagt Nelia. „Wer weiß, was davon noch da ist, wenn wir zurückkommen.“
Doch vielleicht gibt es für die Familie jetzt einen kleinen Hoffnungsschimmer. Durch die Zusammenarbeit der ukrainischen Gemeinde und dem Caritasverband Hannover können sie bald in das leerstehende Pfarrhaus von St. Nikolaus in Burgdorf ziehen.
Rüdiger Wala