Holocaust-Gedenktag

Für welche Werte stehen wir?

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Der Holocaust-Gedenktag bleibt wichtig, finden Martin Koers und Sebastian Weitkamp. Die neuen Leiter der Gedenkstätte für die Emslandlager in Esterwegen wünschen sich aber auch neue Formen des Erinnerns.


Seit Januar leiten Sebastian Weitkamp (l.)und Martin Koers die Gedenkstätte Esterwegen, die an die 15 Emslandlager erinnert. Die zwei Historiker beschäftigen sich seit Jahren mit den Schicksalen der Opfer des Nationalsozialismus. Foto: Stiftung Gedenkstätte Esterwegen

Dass solche Gedenktage wie der 27. Januar eine große Bedeutung haben, steht für Martin Koers und Sebastian Weitkamp außer Frage. „Das ist und bleibt sehr wichtig – gerade vor dem Hintergrund dessen, was wir uns heute als demokratische und liberale Gesellschaft in Erinnerung rufen“, sagt Weitkamp. Die Menschen könnten sich dadurch fragen und auch vergewissern: Für welche Werte stehen wir eigentlich und welche Werte als Zivilgesellschaft möchten wir vertreten? 

Gerade angesichts aktueller Ereignisse gewinnen sie für Weitkamp und Koers sogar noch an Gewicht. Die zwei Historiker, die seit Januar die neue Doppelspitze für die Gedenkstätte in Esterwegen bilden, sprechen dabei vom Erstarken populistischer Strömungen in Deutschland, von zunehmenden Angriffen auf die Pressefreiheit, auf Andersdenkende, auf jüdische Einrichtungen oder von solchen Vorfällen wie kürzlich vor dem amerikanischen Kapitol. 

„Wer hätte denn vor zehn Jahren gedacht, dass wir solch einen Werte- und Diskussionsverlust erleben?“, sagt Weitkamp. „Dass die Grenzen des Sagbaren immer weiter nach außen verschoben werden und wie man mit politischen Gegnern umgeht? Wir sehen doch, wie einfach es offenbar ist, bestimmten Leuten hinterherzulaufen.“ Koers findet es daher wichtig, Gedenktage von ihren Anfängen her zu beleuchten: Wie kam es zu der Entwicklung des Naziterrors? Welche Mechanismen führten zur Verfolgung der Opfer? „Dann wird der Gegenwartsbezug aktueller denn je.“ 

Zeitzeugen wird es immer weniger geben

Weitkamp und Koers wissen aber auch, dass viele Gedenktage in ihrer bisherigen Form nicht mehr alle Menschen berühren.   Beide finden die offizielle Gedenkstunde im Bundestag nach wie vor wichtig – aber sie fragen sich, wie das Erinnern an den Naziterror und seine Opfer tiefer in die Gesellschaft hineinwirken kann. „Damit es nicht nur bei der Rede und bei der Kranzniederlegung bleibt“, sagt Weitkamp, sondern das Gedenktage wie der 27. Januar, der 8. Mai oder der 9. November neu gedacht und stärker mit Leben gefüllt werden.

Martin Koers weiß, dass die Begegnung zum Beispiel mit der Auschwitz-Überlebenden Erna de Vries ein guter Zugang sein kann. Aber solche Zeitzeuginnen wird es immer weniger geben. „Wir brauchen daher neue Wege – wir müssen persönlicher und regionaler werden: mit Menschen, Daten und Ereignissen, die lokal relevant sind.“ 

Beide Historiker haben dazu konkrete Ideen, die nicht unmittelbar an die Daten der Gedenktage gebunden sein müssen. Warum nicht ein Projekt machen zur Befreiung des eigenen Ortes 1945 oder zur Deportation jüdischer Familie 1941? „Da kann man dann gucken: Wie sah das denn bei uns vor der Haustür, in  unserem Dorf, in unserer Nachbarschaft aus?“, sagt Weitkamp. Die Leiter der Gedenkstätte plädieren dafür, individuelle Schicksale zu erzählen und Opfern dadurch ein Gesicht zu geben – vielleicht dann auch einen eigenen Gedenktag für eine Gemeinde oder eine Stadt zu organisieren. „Dann haben sie von der Gedenkstunde in Berlin direkt einen Bogen geschlagen zu der Geschichte in meinem Heimatort, zu mir nach Hause.“ 

Das können nach Ansicht von Koers und Weitkamp zum Beispiel Schulklassen übernehmen, Vereine, Kirchengemeinden und kirchliche Gruppen. Wie die Kolpingjugend: „Wenn sich junge Leute aus diesem Verband mit der Verfolgung von Kolpingschwestern oder Kolpingbrüdern befassen, haben sie doch gleich einen ganz anderen Bezug.“

Biografien von Opfern – stellvertretend für die Zahl der Verfolgten

Martin Koers erzählt in diesem Zusammenhang von einem Projekt, das schon in der Gemeinde Geeste läuft. Mit Ehrenamtlichen erforscht er dort das Schicksal der Kriegsgefangenen im ehemaligen Emslandlager in Dalum. „Die sind ja damals durch die Dörfer gelaufen, haben in Firmen gearbeitet und sind beerdigt auf den Friedhöfen.“ Solch ein lokales Projekt schafft seiner Ansicht nach eine andere Betroffenheit.

Die Gedenkstätte in Esterwegen selbst kann wegen der Corona-Krise am 27. Januar keine öffentliche Gedenkstunde abhalten. Im kleinen Kreis soll ein Kranz niedergelegt werden. Aber auf der Facebook-Seite, die jeder Leser nutzen kann, soll ein Film über Erna de Vries zu sehen sein. Außerdem will das Team dort Biografien mehrerer Opfer der 15 Emslandlager vorstellen: stellvertretend für die große Zahl der unter den Nazis verfolgten Menschen. 

Soziale und digitale Medien wie Facebook, Twitter und Instagram können nach Ansicht der Historiker auch ein Weg sein, mehr junge Leute für diese Themen anzusprechen. Die Gedenkstätte arbeitet zudem an einem  digital geführten Rundgang durch die Emslandlager – nicht im Museum, sondern direkt vor Ort. Dafür kann man sich mit dem Handy die App „DigiWalk“ herunterladen und bekommt künftig dann in Walchum, Wesuwe oder Bathorn Infos, Bilder und Biografien. „Zum Ersten Weltkrieg gibt es das bereits in Osnabrück. So kann man sich Erinnerungsorte selbst erlaufen“, berichtet Weitkamp.  Die Leiter hoffen, dass die entsprechenden  Themenrouten für die Emslandlager im Frühjahr abrufbar sind.

Ein anderes Projekt, mit dem junge Menschen sich erinnern und gedenken können, sind laut Koers die vom Bund geförderten „Bodenspuren“. Junge Erwachsene befassen sich in Sommer- und Herbstakademien ganz praktisch durch Grabungen mit den Lagergeschichten im Emsland. Die Funde und Ergebnisse sollen später in Ausstellungen zu sehen sein. „Diese Arbeit an ehemaligen Gewaltorten ist ein im Sinne begreifbarer Zugang“, sagt Martin Koers. 

Petra Diek-Münchow


Zur Sache

Am 25. Januar beginnt um 19 Uhr ein Online-Themenabend der Christlichen Arbeiterjugend Osnabrück (CAJ) und der Gedenkstätten Augustaschacht (Foto) und Gestapokeller unter der Überschrift „Projekte für die Zukunft – Erinnern an den Nationalsozialismus“. Gast des Abends ist Luigi Toscano, Filmemacher und Fotograf. In den vergangenen sechs Jahren hat der Mannheimer über 400 NS-Überlebende getroffen und ihre Geschichte sowie ihr Porträt festgehalten. An dem Abend schaltet er sich online aus Paris dazu, um von seinen Erfahrungen mit dem Projekt zu berichten. Die CAJ Osnabrück sowie die beiden Gedenkstätten organisieren den Abend zum Holocaust-Gedenktag. Anmeldung per E-Mail: caj@bistum-os.de