Eine spirituelle Entdeckungstour mit dem Bus

Ganze Linie, kleine Kreise

Image

Kirche und Friedhof mögen bei einer spirituellen Entdeckungstour in der Stadt erwartbar sein. Die Bahnhofsmission schon weniger. Eine Bäckerei erst recht nicht. Aber was verbindet diese Orte in Hannover? Die Buslinie 121. Ein Experiment beim Klosterherbst der Cella St. Benedikt.


Spiritualität: Manchmal ist es auch eine Sache des Küchentuchs,
wie Bernward Kalbhenn demonstriert. 

Die Spiritualität ist weiblich. Der Glaube ist männlich. Wie anders ist es zu erklären, dass bei einer spirituellen Entdeckungstour durch Stadtteile von Hannover mit einer Ausnahme nur Frauen dabei sind. Und diese Ausnahme ist – wie sollte es anders sein – der Ehemann einer Teilnehmeri, freiwillig und gern dabei. Die Impulse aber geben zwei Männer, gewissermaßen die Verkünder des Glaubens. Soweit so typisch zum Bild der von Männern geleiteten Frauenkirche.

Aber ansonsten ist alles andere untypisch. Eingeladen ist zur „Spiritualität auf ganzer Linie“. Linie ist dabei wörtlich gemeint. Denn es ist die Buslinie 121, Altenbekener Damm bis Haltenhoffstraße, die die Stationen der Entdeckungstour verbindet. Ihr Fahrplan gibt dann auch den Takt vor, da wird’s dann doch wieder typisch für das Verhältnis von Spiritualität und Alltag. Manchmal fehlt ein Tick Zeit, um den Gedanken nachzuhängen. Der Bus soll ja noch erreicht werden.

„Das aber gehört zum Konzept“, sagt Initiator und Impulsgeber Bernward Kalbhenn. Für den 71-jährigen Journalisten und ehemaligen Leiter der Redaktion Religion und Gesellschaft im NDR macht gerade dieses Zwischenspiel aus Busfahrplan und Entdeckungsorten den Reiz der Tour aus. Einen Bus mieten und Stationen abfahren wäre zu einfach gewesen. So haben er und Pater Nikolaus Nonn neben ihren Impulsen auch stets die handschriftlich notierten Abfahrtzeiten im Blick – und passen sich an, wie ihre Begleiterinnen und der Begleiter.
 


Ganze Linie: Die Stationen des spirituellen Weges sind
durch die Buslinie 121 verbunden.

Der Auftakt ist das Ende. Oder ein neuer Anfang. So wie man es sieht. Zum einen die Endstation der Linie 121. Oder der Anfang für eine neue Fahrt. Zum anderen die Endstation des Lebens, hier der Stadtfriedhof Engesohde. Oder der Anfang der Auferstehung. Kalbhenn erinnert daran, dass sich in früheren Zeiten Menschen immer in der Nähe einer Kirche haben beerdigen lassen. Am besten noch nach Osten ausgerichtet, wie der Altar im Gotteshaus. Um am Tag der Auferstehung gleich am Himmelstor zu sein. Kalbhenn erzählt dies an einem markanten Punkt des Stadtfriedhofes – am Grabstein des 1848 verstorbenen Künstlers Kurt Schwitters. Darauf eingraviert der Satz: „Man kann ja nie wissen“. Pater Nonn erinnert das an eine Begebenheit aus der Apostelgeschichte: Paulus ist in Athen, geht umher, sieht die Heiligtümer an und entdeckt einen Altar mit der Aufschrift: „Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch“. Man kann ja nie wissen. Aber glauben.

 


Das Brot als Mittel zum Leben: Ruth Scharwies erläutert die
Philosophie ihres Handwerks – auch eine Sache der Spiritualität.

Was bedeutet eigentlich „Lebendiges Brot“?

Der Bus ist weg. Die nächste Station ist aber nur zwei Haltestellen entfernt: Eine Backstube. Auch ein Ort der Spiritualität. Inhaberin Ruth Scharwies erzählt, wie der Umgang mit dem Lebensmittel Brot Geduld und Zeit erfordert. Wie der Sauerteig dreimal am Tag gehegt und gepflegt werden muss. Auch an den Tagen der Bäckerruhe, beim Backwerk sind das der Sonntag und der Montag. „Anfrischen mit Wasser“, beschreibt sie den Vorgang. Und weiter: „Das ist ein lebendiges Stück Teig.“ Ein Lebensmittel – nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst lebendig. Lebendiges Brot – ein immer wieder gepredigtes Wort des Glaubens bekommt so eine (an)fassbare Bedeutung.

Noch so ein häufig benutzter Halbsatz: den Glauben im Alltag entdecken. Oder „den Mönch in dir“. Das ist die Absicht des Klosterherbstes der Cella St. Benedikt, in den die Bustour eingebunden ist. „Mönch in dir“ meint dabei nicht die Mission, in ein Kloster eintreten zu müssen. Sondern, dass Elemente des Mönchseins sich als Urbild tatsächlich im eigenen Leben finden lassen – als Suchbewegung nach einem einfachen Lebensstil, nach Zeiten der Stille, nach Gottes Spuren im Alltag. Das geht auch entlang der Buslinie 121.
 


Wo die Sprache verstummt, hilft ein Psalm – wie hier im Kolumbarium
der Nazareth-Kirche in der Südstadt von Hannover.

Mit seiner Idee hat Kalbhenn bei den Benediktinern der Cella sofort Anklang gefunden. Schnell war eine lange Liste von Orten entlang dieser zum Stadtkloster führenden Buslinie beisammen, die genau diese spirituellen Suchbewegungen und Sehnsüchte widerspiegeln. Ob nun naheliegend wie ein Friedhof oder überraschend wie eine Bäckerei. „Wir mussten uns dann aus Zeitgründen auf fünf beschränken“, berichtet Pater Nonn. Und auch die Zahl der Teilnehmer, zum Bedauern derer, die nur einen Platz auf der Warteliste fanden. Wieder gibt die Linie 121 den Takt vor.

Stichwort. „Spiritualität auf ganzer Linie“. Im wirklichen Leben sind es eher kleine Kreise, in denen die Entdeckungsreisenden immer wieder zusammenkommen. Ob nun im Kolumbarium der evangelischen Nazareth-Kirche, vor der Bahnhofsmission oder in der Cella St. Benedikt als Ziel: geometrisch ordnet sich Spiritualität anders als eine Linie. Auch im Ausdruck: Wo Worte vor Urnen im Kolumbarium nicht ausreichen, wird ein Psalm gesungen: „Denn du gibst mich nicht preis der Unterwelt; deinen Frommen lässt du nicht schauen die Grube.“
 


Immer wieder Impulse – wie dieses Mini-Heft zu den
Werken der Barmherzigkeit.

Inmitten des geschäftigen Treibens vor dem Hauptbahnhof wird an die erinnert, die durch die Maschen der Gesellschaft fallen und Hilfe brauchen. Und beim Abschluss, in der Kapelle der Cella, wird Gott gelobt: „Alles, was Atem hat, lobe den Herrn“. Trauer, Hilfe, Dank – alles möglich an der Linie 121.

„Ein reizvoller Blick hinter die Dinge“

„Ein reizvoller Blick hinter die Dinge“, sagt Maria Sternemann. Gerade in der Kombination aus informativen und spirituellen Elementen. Besonders überraschend war der Besuch in der Bäckerei: „Das war im guten Sinne der Clou, die authentische Art der Bäckerin hat mich sehr angesprochen.“

Was hinter dem vermeintlich Selbstverständlichen steckt – für Irmlinde Kohlmann hat die Entdeckungstour diese Wahrnehmung geschärft. Sie bezeichnet sich selbst als nicht religiös gebunden und ist durch eine Freundin zum Mitgehen animiert worden. „Das wird jetzt vielleicht etwas großspurig klingen, aber ich gehe tatsächlich mit etwas anderen Augen durch die Welt.“ Das sei ihr schon abseits des Weges aufgefallen. Beim Vorbeigehen an einem Bauernmarkt in der Nähe der Cella: „Die Angebote, die Arbeit, – das schätze ich jetzt anders, wertvoller.“
„Wunderbare Eindrücke auf jeder Station“, fasst Ina Enke ihre Erlebnisse zusammen. Gerade durch das Busfahren hat sie die Stadt aus einem anderen Winkel erlebt. Auch für sie war die Bäckerei das überraschende Element: „Dass das Brot lebt – ein toller Gedanke.“ Ihr Ehemann Hermann teilt ihre Einschätzung: „Spannend, wie Dinge, an denen man sonst vorübergeht, eine neue Bedeutung bekommen. Da gibt es noch viel zu entdecken.“

Rüdiger Wala