Kulturkirche 2025
Gemalter Bibelschatz

Foto: Philipp Herfort Photography
Das Große Zittauer Fastentuch hängt im Original in der Kirche zum Heiligen Kreuz in Zittau.
„Das Ungesehene sehen“ – das ist das Motto der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Katholiken ist dieser Gedanke nicht fremd: Seit Jahrhunderten üben sie ein, wie man etwas neu sehen kann, wenn man es eine Zeitlang verdeckt: mit Fastentüchern. Die meist einfachen violetten Tücher verdecken von Aschermittwoch bis Ostern den Blick auf den Hochaltar oder das Kreuz – und verhüllen das, was bekannt ist. „Wir greifen diese Tradition bewusst auf, weil sie dafür sorgt, dass wir einen neuen Blick erhalten“, sagt Ulrike Lynn. Sie ist Beauftragte der Katholischen Kirche für die Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. In der Passionszeit solle so auch ein „Fasten der Augen“ praktiziert werden.
Dafür kommt jetzt ein besonderes Kunstwerk nach Chemnitz: das Große Zittauer Fastentuch. Weil das Original nicht reisen darf – es ist zu alt und zu wertvoll – wird eine originalgetreue Kopie den Altar der Kirche St. Joseph verhüllen. „Das Große Zittauer Fastentuch ist über acht Meter hoch und fast sieben Meter breit. Da kam eigentlich nur eine Kirche infrage“, erklärt Ulrike Lynn die Wahl des katholischen Gotteshauses.

Die riesige textile Bilderbibel stammt aus dem Jahr 1472 und ist damit über 550 Jahre alt. Sie zeigt 90 Bilder mit Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament in zehn Reihen zu je neun Bildfeldern. Jedes ist 65 mal 65 Zentimeter groß und mit einer sich reimenden frühneuhochdeutschen Textzeile versehen. Umrahmt werden die Bildtafeln von einer 50 Zentimeter breiten Bordüre, die mit Pflanzen- und Tierornamenten geschmückt ist. Im Gegensatz zu den noch älteren gestickten Tüchern wurde das Zittauer Fastentuch gemalt. In Deutschland ist es das Einzige dieser Art, das noch erhalten ist.
Der Historiker Volker Dudeck aus Zittau nennt das Tuch, das seit 1999 in der sächsischen Stadt im Dreiländereck zwischen Deutschland, Tschechien und Polen ausgestellt ist, „ein einzigartiges Zeugnis mittelalterlicher Frömmigkeit“. Als Direktor der Städtischen Museen setzte er sich 1990 für die Restaurierung der 17 Stofffetzen ein, von denen er ahnte, dass sie eine Kostbarkeit sind. Mit Blick auf das marode Abwassernetz und kaputte Straßen erntete er aber vom Zittauer Bürgermeister nur die lapidare Antwort: „Wer soll das denn bezahlen? Wir haben ganz andere Sorgen.“ Die Restaurierung hätte mindestens eine halbe Million D-Mark gekostet, doch die war im Stadthaushalt nicht übrig.
Dudeck gab die Hoffnung nicht auf. Am Ende wurde das Große Zittauer Fastentuch unentgeltlich in einer Werkstatt in der Schweiz restauriert. Doch das ist nicht das einzige Wunder. Dudeck ist sich sicher, „dass da jemand die Hand drüber gehalten hat“. Etwa in der Reformation: Obwohl Martin Luther gegen den Gebrauch von Fastentüchern und ähnlichem „päpstischen Gaukelwerk“ wetterte, wurde es bis 1672 liturgisch genutzt. Es überlebte Brände und Kriege.
Ausdrucksstarke Bilder mit Witz
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es fast sein Ende. „Im Februar 1945 brachte man es vorsorglich auf der nahegelegenen Burg Oybin in Sicherheit. Dort fanden es sowjetische Soldaten, zerrissen es und benutzten die Stoffteile als Wand- und Deckenverkleidung einer provisorisch im Wald errichteten Saunahütte, wodurch es zu gravierenden Beschädigungen und Farbverlusten kam“, schreibt Dudeck in der Festschrift zum 550. Jubiläum des Tuchs.
Diese Stofffetzen im Wald fand nach Kriegsende ein Zittauer, der wusste, was er da vor sich hatte. In der DDR-Zeit konnte man die Fetzen zumindest reinigen. Aber erst Mitte der 1990er Jahre wurden sie mithilfe der Abegg-Stiftung im schweizerischen Riggisberg restauriert und wieder zusammengefügt.
Dudeck ist überzeugt, dass die Renaissance der Fastentücher und überhaupt der Fastenzeit „wesentlich“ mit dem Großen Zittauer Fastentuch zusammenhängt. Er freut sich, dass das Große und das ebenfalls ausgestellte Kleine Zittauer Fastentuch nun eine Brücke zwischen den Städten schlagen: Denn Zittau hatte sich ebenfalls um den Titel Kulturhauptstadt beworben.
Auch der katholische Propst Benno Schäffel ist an der Initiative Kulturkirche 2025 und am Fastentuch-Projekt beteiligt. Er schwärmt: „Mit welcher Ausdruckskraft und zum Teil mit welchem Witz die Szenen dieser Armenbibel dargestellt sind!“ Er möchte gerade die Bilder aus dem Neuen Testament, die mit am besten erhalten sind, in seine Gottesdienste und Fastenmeditationen einbinden.
Kulturkirche 2025
In Chemnitz und der Region werden schon seit 2023 katholische und evangelische Altäre mit zeitgenössischen Kunstwerken verhüllt. Die Altarverhüllungen sind Teil des ökumenischen Programms der Kirchen zum Kulturhauptstadtjahr. Informationen zu Projekten, Terminen und Veranstaltungen gibt es unter: www.kulturkirche2025.de