Antje Müller schreibt die Bibel ab
Gottes Wort gehört unter die Menschen
Foto: Stefan Branahl
Meterhoch ragt das schmale Pergament in die Kirchenkuppel. Wer gute Augen hat, liest einen der entscheidenden Sätze: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Das Zitat stammt aus einem Brief des Apostels Paulus, den er an die Galater geschrieben hat, in dem er seinen eigenen Weg zum Christen beschreibt.
Christ sein in schwierigen Zeiten – Antje Müller (54) kann ein Lied davon singen. Gebürtig stammt sie aus Anklam, ihr Vater ist ehrenamtlicher Prediger in einer freikirchlichen Gemeinde. Das Wort Gottes prägt den Alltag in der fünfköpfigen Familie – auch wenn es in der DDR vielen sauer aufstößt. Antje zieht die Taufe einer Mitgliedschaft in der FDJ vor. „Schon als Kind habe ich Gott mein Leben gewidmet“, sagt sie heute, das hat vieles nicht einfacher gemacht. Studieren? Es gibt nur eine Möglichkeit, Chemie, darum reißt sich damals keiner, weil nach dem Abschluss in aller Regel Leuna oder Bitterfeld warten.
„Ich bin durch ein tiefes Tal gegangen“
Nach der Wende Neustart in Bremen, Antje Müller wird Lehrerin, heute leitet sie eine Schule. Kein gerader Weg, ihr Leben ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn – vor allem emotional. „Aber in Gott habe ich Trost und Liebe gefunden.“ Das sind schon starke Worte, aber sie kommen ganz unaufgeregt, zurückhaltend. Nicht in jeder Situation hat sie sich ihm nahe gefühlt. „Es gab Zeiten, da bin ich durch ein tiefes Tal gegangen, persönlich und im Glauben.“ Eine Art Hochmut nennt sie das heute, und die Gottesferne sei für sie wie eine schlimme Strafe gewesen.
Wir sitzen in der Lüneburger Nicolaikirche, weil Antje Müller in diesen Wochen ihr Lebenswerk hier ausstellt. Sie schreibt seit Jahren die Bibel ab, Wort für Wort malt sie auf Pergament oder auf speziell präpariertes Ziegenleder. Mal sind es alte Schriften, dann wieder moderne, einzelne Absätze werden durch besonders kunstvolle Schmuckbuchstaben eingeleitet. Ohne das, was sie eben erzählt hat, könnten wir denken, Antje Müller habe ein leicht spleeniges Hobby. Aber für sie ist es eine Art Gottesdienst. „Er wollte, dass ich mich an diese Arbeit mache, und ich konnte mich seinem Auftrag nicht entziehen.“
Kalligrafie wird das genannt, was Antje Müller macht. Es ist eine ganz besondere Art der Schönschrift, oft geht es dabei um das Abschreiben heiliger Texte. Schon die Mönche des frühen Mittelalters beherrschten das Kopieren meisterhaft, in den Scriptorien der Klöster waren sie lange vor den Zeiten des Buchdrucks damit beschäftigt. Aber auch der Islam kennt diese künstlerische, ja geradezu ehrfürchtige Art des Schreibens.
Angeregt durch eine ältere Schulkollegin, entdeckte Antje Müller vor fast 20 Jahren ihr Talent, bildete sich weiter, besuchte in den Ferien Kurse bei echten Meistern. Hartnäckig blieb sie am Ball. Und am Ende gab es die erste Bestätigung: Bei den Reformationsfeiern in Wittenberg hingen vier große Banner von ihr in der Kirche, gestaltet mit den vier „soli“, den Kernaussagen Luthers: „allein Christus“, „allein durch die Schrift“, „allein durch Glaube“, „allein aus Gnade“.
Eine Mammutaufgabe für viele Jahre
Wittenberg war erst der Anfang für ein Mammutwerk, die künstlerische Abschrift der kompletten Bibel. Eine Überschlagsrechnung, die für die meisten wohl nicht gerade anspornend sein dürfte, ergab: bei fünf Bibelversen täglich sind das 17 Jahre – nicht eingerechnet Urlaub, Krankheit, fehlende Motivation. „Aber ich fühle, dass Gott mich beauftragt hat. Da werde ich nicht kneifen“, sagt Antje Müller. Denn es sei nicht künstlerischer Ehrgeiz, von dem sie sich herausgefordert fühlt. „Ich möchte Menschen mit seinem Wort in Verbindung bringen. Damit sie darüber reden, damit sie es weitergeben. Damit sie erfahren: Es lohnt sich, mit Gott zu leben.“
Und darum war ihr Projekt, in das alle Energie einfließt, von Anfang an als Ausstellung konzipiert. Wobei Antje Müller mit einem bemerkenswerten Marketing vorgeht: „Gott, ich habe das für dich gemacht. Jetzt warte ich ab, bis sich jemand bei mir meldet.“ In St. Nicolai ist jetzt, nach sieben Jahren, das Halbzeit-
ergebnis zu sehen: Überall im Kirchenraum hängt das Neue Testament, mal auf langen Bannern, dann in gebundenen Miniaturen.
Es geht weiter, das Alte Testament wartet, wieder Arbeit für Jahre. Wie bringt Antje Müller diese Disziplin auf? „Ich gestalte mein Leben mit Gott, darum ziehe ich mich fast jeden Tag für eine Stunde zurück und bringe mein Werk voran.“ Für sie ist Glaube mehr als Event und Hully-Gully. „Für mich ist es die persönliche Verbindung zu Gott – und in diesen Momenten der Stille fühle ich mich besonders verbunden mit ihm.“
Die Ausstellung in St. Nicolai, Lüneburg, ist noch bis zum 28. August zu sehen.