Impuls zum Sonntagsevangelium am 20.08.2023

Größer als Gesetze

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Regeln sind wichtig, manchmal jedoch hinderlich
Nachweis

Foto: imago/Pond5

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Regeln sind wichtig. Aber manchmal versperren sie den Weg zum Leben.

Das Evangelium dieses Sonntags ist eines von denen, in denen Jesus wirklich als Mensch rüberkommt. Als genervter Mensch, schroff, ein bisschen unsympathisch – aber auch lernfähig.

In Kapitel 14 und 15 des Matthäusevangeliums ist Jesus im Stress. Eine Herausforderung jagt die nächste: hier eine Heilung, da ein Streitgespräch, dort eine Predigt. Und dann ist gerade noch Johannes der Täufer enthauptet worden.

Keine Minute Ruhe hat Jesus – vielleicht geht er auch deshalb weg und zieht sich „in das Gebiet von Tyrus und Sidon“ zurück, wie das Evangelium erzählt. Tyrus und Sidon sind Hafenstädte weit im Norden, im heutigen Libanon. Damals galten sie als heidnische Städte, hier würde der Jude Jesus nicht in Gefahr laufen, ständig angefragt und in Gespräche verwickelt zu werden.

Aber: Pech gehabt, sein Ruf eilt ihm voraus. Eine kanaanäische Frau, eine Heidin, hat offenbar von ihm gehört. Dass er helfen kann, wenn nichts mehr hilft. Und Jesus reagiert genervt, unfreundlich, schroff.

Der Jude Jesus verkehrt nicht mit Heiden

Sicher einerseits, weil er endlich mal seine Ruhe haben will. Aber andererseits, weil er die Heiden nicht mag. Jesus ist Jude und sagt nicht nur hier, dass er „für die Kinder des Hauses Israel“ da ist, für sein Volk, für das Volk, das Gott sich – nach Ausweis des Alten Testaments – als besonderes Eigentum auserwählt hat. 

Die heiligen Schriften sind voll von Stellen, in denen es um die Abgrenzung zu den Heiden geht. Um Regeln, die den Abstand zementieren: nicht das Haus von Heiden betreten, nicht mit ihnen essen, sich nach einem Kontakt rituell waschen. Jesus wird sie alle gekannt haben. Und überzeugt gewesen sein, dass sie absolut richtig sind. 

Eine Frau lehrt Jesus etwas Neues

Dafür spricht seine Reaktion: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen.“ Und das ist dann schon ziemlich brutal. Jesus wertet diese Frau, die um das Leben ihrer Tochter fürchtet, als „Hund“ ab. Eine unverschämte Beleidigung, die man Jesus, dem Sanften, gar nicht zutraut. Aber wenn es um den Vorrang der Juden geht, kennt er keine Kompromisse. Kein Jota vom Gesetz will er wegnehmen, sagt er einmal.

Und dann steht da diese Frau. Und sie lehrt Jesus den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Theoretisch mag er recht haben, mögen all die Ge- und Verbote, die das Zusammenleben zwischen Juden und Heiden auf engem Raum regeln, ihren Sinn haben. Aber dann kommt das Leben dazwischen. Ein totkrankes Kind. Eine angstvolle Mutter. Und die lässt nicht nach, gibt nicht auf, schluckt die Beleidigung, argumentiert: „Ja, Herr! Aber selbst die kleinen Hunde essen von den Brotkrumen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Beleidige mich, Herr, soll das heißen, aber rette meine Tochter!

Dass Jesus hier ein Lernender ist, ist auf zweierlei Weise interessant. Zum einen im Blick auf ihn selbst. Denn neben aller Göttlichkeit, die gerade das Johannesevangelium prägt, ist Jesus eben auch wahrer Mensch. Er musste laufen und sprechen lernen, seine Religion kennenlernen, beten lernen, ein Handwerk lernen. 

Und er lernt sein Leben lang. Sogar von einer Frau. Sogar von einer heidnischen Frau. Er lernt bis zur Stunde seines Todes. Dass Gott ihn eben nicht verlässt, auch wenn es so aussieht. Dass das Leben weitergeht, auch wenn es endet. 

Interessant ist diese Geschichte aber auch für uns. Denn wenn Jesus von der kanaanäischen Frau lernt, dass (religiöse) Regeln, so sinnvoll sie auch sein mögen, nicht alles sind, dass das Leben manchmal die Regeln aushebelt, dann sollten auch wir das lernen. Gerade als Kirche.

Denn auch bei uns gibt es viele, sehr viele Regeln. Die in der Theorie sinnvoll sein mögen, denen aber das Leben manchmal dazwischenkommt. Und das auf sehr schmerzhafte Art und Weise.

So gab es zum Beispiel die Regel, dass ungetaufte Menschen oder solche, die sich das Leben genommen haben, nicht kirchlich bestattet werden. Aber dann wurde ein Kind tot geboren oder das depressive Gemeindemitglied sprang vor den Zug – soll man sie würdelos verscharren? Viel zu oft hat man es rücksichtslos getan! Es sei denn, hartnäckige Frauen oder Männer kämpften ganz wie die kanaanäische Frau darum, dass Gott Liebe und Barmherzigkeit ist – nicht Erbsenzähler und Blockwart. 

Und auch heute noch ist unsere Kirche voll von Regeln. Etwa in der Liebe. Ja, die Ehe ist unauflöslich, aber manchmal scheitert sie trotzdem. Und die Regel, dann keine neue Beziehung eingehen zu dürfen, kommt an ihre Grenzen. Die Regel, dass in einer zweiten Beziehung Lebende nicht die Kommunion empfangen dürfen, noch viel mehr.

Oder: Ja, es ist eine Regel, dass nur Katholiken die Kommunion empfangen dürfen, weil nur sie wirklich einschätzen können, welches Geschenk sie da bekommen. Aber dann kommen konfessionsverbindende Familien, möchten gemeinsam kommunizieren – und die Regel kommt an ihre Grenzen.

Papst Franziskus ist auf der Linie Jesu

Jesus hat in der Begegnung mit der Frau, die um das Leben ihrer Tochter bangt, gelernt: Regeln mögen wichtig sein, aber es gibt Wichtigeres. Einer, der auch so denkt, ist Papst Franziskus. Er wird nicht müde zu sagen, dass das Leben seine eigenen Regeln hat. Deshalb hat er in der Enzyklika „Amoris laetitia“ Wege eröffnet, dass Katholiken, die in zweiter Ehe leben, die Kommunion empfangen können. 

Deshalb hat er dem zukünftigen Leiter der Glaubenskongregation, Victor Fernandez, mit auf den Weg gegeben, dem Amt eine „neue Färbung“ mitzugeben und „mehr auf Dialog und weniger auf Abgrenzung“ zu setzen. In dem Bemühen, „im Dialog mit dem konkreten Leben der Menschen, mit ihrem Leiden, ihren Schicksalsschlägen und ihrer Hoffnung“ zu bleiben, kann sich Ferndandez deshalb sogar die Segnung homosexueller Paare vorstellen. Nicht, um alle Regeln außer Kraft zu setzen, sondern in dem Wissen, dass Gottes Liebe und Barmherzigkeit größer ist als jedes Gesetzbuch.

Susanne Haverkamp