Die Kinder der Überlebenden im Displaced Persons Camp
Leben mit den Geistern der Vergangenheit
Sie kamen in den Jahren nach der Befreiung des Konzentrationslagers zur Welt. Doch ihr Geburtsort ist Bergen-Belsen: die Kinder der Überlebenden im „Displaced Persons Camp“.
Menachem Rosensaft lebt mit einem Geist, so hat er es einmal selbst beschrieben. Bis heute bewahrt der 71-Jährige ein Bild seines Halbbruders auf – bei sich zu Hause in New York und in seinem Herzen. Er hat Benjamin nie kennengelernt. Der Sohn aus erster Ehe seiner Mutter wurde Jahre vor seiner Geburt in Au-schwitz ermordet, mit nicht einmal sechs Jahren. „Wenn ich ihn vergesse, erinnert sich niemand mehr“, sagt Rosensaft bei einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen bei Celle. „So geht es vielen von uns.“
Überlebende mussten bis 1950 ausharren
Der amerikanische Jurist kam im jüdischen „Displaced Persons Camp“ auf die Welt. Hier mussten nach der Befreiung am 15. April 1945 noch bis 1950 KZ-Überlebende ausharren. Denn der Krieg war zwar vorbei – aber viele Überlebende wussten zunächst einmal nicht, wohin. Die Alliierten versorgten sie in den sogenannten „DP-Camps“.
Menachem Rosensaft ist Gründungsvorsitzender eines Netzwerkes von Kindern Holocaust-Überlebender. „Wir selbst haben das Lager nicht durchlitten, sind nicht durch den Horror gegangen, aber unser Geburtsort ist Bergen-Belsen“, sagt er. Die „DP-Babies“ stünden in vielfacher Hinsicht für einen Übergang, so wie der Ort, an dem sie zur Welt kamen. Im jüdischen DP-Camp warteten zeitweilig bis zu 12 000 Menschen auf die Möglichkeit, Deutschland verlassen zu können.
Dadurch sei Bergen-Belsen ein in der Geschichte einmaliger Ort, sagt Rosensaft. „Für die Juden stand das Camp für das Ende und für einen Neubeginn zugleich.“ Die britischen Befreier hatten auf dem Gelände ein Nothospital eingerichtet. Noch 14 000 Menschen starben dort bis Mitte Juni 1945 an den Folgen der grausamen Zustände im Konzentrationslager.
Doch es wurden auch Ehen geschlossen, wie die von Hadassa Bimko und Josef Rosensaft. Mehr als 1500 Kinder kamen laut Forschungen zur Welt – so wie Menachem im Mai 1948. Die Historikerin Katja Seybold von der Gedenkstätte Bergen-Belsen erläutert: „Unter den Displaced Persons war der Anteil an jungen und jugendlichen Überlebenden überproportional hoch. Häufig waren sie die einzigen Überlebenden ihrer Familie.“ Sie hätten Halt und Geborgenheit gesucht.
Deborah war ein „medizinisches Wunder“
Deborah Morags Eltern lernten sich ebenfalls in dem DP-Camp kennen, nachdem sie die Lager Auschwitz und Maydanek überlebt hatten. 1948 wurde die heute in Israel lebende Fotografin in Bergen-Belsen geboren. „Ein medizinisches Wunder“, sagt die 71-Jährige. Angesichts ihres Zustandes hätten ihre Eltern nicht zu hoffen gewagt, Kinder zu bekommen. Als Deborah sechs Monate alt war, wanderte die Familie nach Israel aus.
Über die Vergangenheit sprachen die Eltern wenig. Als Kind und Jugendliche habe sie vermieden, danach zu fragen. „Sie waren so verletzlich.“ Dabei habe manches sie umgetrieben: Die Nummer auf dem Arm des Vaters; warum sie anders als Freunde, deren Familien in früherer Generation eingewandert waren, keine Großeltern hatte. Deborah, so hieß auch eine ihrer Großmütter, die in Maydanek umkam und von der nicht einmal mehr ein Foto blieb.
Auch Menachem Rosensafts Eltern verloren die engsten Angehörigen in Au-schwitz – sein Vater die damalige Ehefrau und seine Stieftochter, die Mutter neben dem ältesten Sohn auch ihren ersten Mann und ihre Eltern. Im DP-Camp nahmen die Rosensafts leitende Funktionen ein. Der Vater wurde Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone und des Jüdischen Komitees in Bergen-Belsen. Als die Familie bereits in die Schweiz emigriert war, sei er in Deutschland geblieben, um niemanden zurückzulassen, berichtet sein Sohn. Gefragt, ob er stolz auf seinen Vater ist, wird Rosensafts Stimme weich. „Very much so“, sagt er auf Englisch: „Sehr.“
Die Geschichte der Familie habe sein eigenes Leben stark beeinflusst, sagt Rosensaft. „Das ist Teil meiner Identität.“ Als Jura-Professor hat er unter anderem über Völkermorde gelehrt.
Deborah Morag wählt die Kunst, um sich auseinanderzusetzen. Eigentlich hätte im April auch eine Ausstellung mit ihren Fotos in Bergen-Belsen eröffnet werden sollen. Auch das soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Die Fotografin hat sich selbst und zwölf weitere Töchter von Auschwitz-Überlebenden in Szene gesetzt. Immer in dem selben weißen Kleid und mit einem Koffer, auf den jede der Frauen die KZ-Nummer eines Elternteils geschrieben hat. „indelible“ (unauslöschlich) ist der Titel der Ausstellung.
Auch wenn ihre Eltern versucht hätten zu verdrängen, um weiterleben zu können, ließen sich Vergangenheit und Identität nicht auslöschen, sagt Morag. Durch ihre Kunst wolle sie die Erinnerungen bewahren und vor Völkermorden warnen: „Das ist auch ein Heilungsprozess.“
Karen Miether
Auch ein polnisch-katholisches Camp
Im polnisch-katholischen DP-Camp Bergen-Belsen lebten zeitweilig mehr als 10 000 Menschen. Sie waren vor der Befreiung als zivile Zwangsarbeiter eingesetzt worden oder waren ehemalige Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge.
Auch ihr Alltag wurde in weitgehender Selbstverwaltung organisiert. Kindergärten, Schulen und Kurse zur beruflichen Weiterbildung wurden eingerichtet. Es gab Chöre und Musikkapellen, Kunstausstellungen, Fußballmannschaften und Leichtathletikwettkämpfe. Das Camp bestand bis September 1946.