Praktische Ausbildung muslimischer Seelsorger
Meilenstein für die Integration
Am Islamkolleg Deutschland (IKD) in Osnabrück werden Seelsorger für Moscheegemeinden ausgebildet – auch mit Hilfe christlicher Kooperationspartner. Das ist bundesweit einmalig. Die Zeit sei längst reif für diesen Schritt, sagt der IKD-Vorsitzende und ehemalige Imam Esnaf Begić. Am 15. Juni geht es los.
Von der Trauung eines befreundeten Paares war Esnaf Begić so begeistert, dass er beschloss, dieses Erlebnis mit seinen Studentinnen und Studenten zu teilen. Er machte die katholische Zeremonie kurzerhand zum Seminarthema im Studiengang Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. „Mich hat beeindruckt, wie intensiv sich der Diakon mit dem Hochzeitspaar beschäftigt hatte und versucht hat, die Biografien mit der Heiligen Schrift zu verbinden“, sagt Begić und fügt hinzu: „In der praktischen Seelsorge wie auch in anderen theologisch-praktischen Arbeitsfeldern können wir noch viel lernen.“
Bislang fehlt in Deutschland ein muslimisches Pendant zum Priester- oder Rabbinerseminar. Den Grundstein dafür legt jetzt das Islamkolleg in Osnabrück, dessen Vorsitzender Esnaf Begić ist. Frauen und Männer aus dem gesamten Bundesgebiet, die als Vorbeter (Imam), Seelsorger oder Gemeindepädagogen arbeiten wollen, werden ab der kommenden Woche auf ihren Dienst in den Moscheegemeinden vorbereitet – auch mit Hilfe christlicher Kooperationspartner. Es ist die erste deutschsprachige und verbandsunabhängige Ausbildung dieser Art in Deutschland (siehe auch „Zur Sache“).
Nach der Gründung des ebenfalls in Osnabrück ansässigen Instituts für Islamische Theologie sei dies der notwendige zweite Schritt gewesen, sagt Begić. Denn: „Ich kann mir im Hochschulstudium theoretisches Wissen über den Islam aneignen, lerne aber nicht, wie ich seelsorgliche Gespräche führe, predige, Menschen anspreche oder einen Verstorbenen rituell wasche.“
Gut ausgebildete muslimische Krankenhaus-, Gefängnis- oder Notfallseelsorger sind knapp. Und Imame werden nach wie vor aus dem Ausland importiert – oft ohne Deutschkenntnisse. Höchste Zeit, daran etwas zu ändern, findet Begić. Er weiß, worum es in der Sache geht. Der 49 Jahre alte Islamtheologe, geboren in Bosnien und Herzegowina, ist selbst ausgebildeter Imam und Religionslehrer. 1992 leistete er ein Praktikum in einer Moscheegemeinde im nordrhein-westfälischen Castrop-Rauxel. Dann brach der Krieg in seiner Heimat aus und er blieb in Deutschland. Heute ist er promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamische Theologie in Osnabrück.
Es braucht Aufklärung über die deutsche Geschichte und das politische System
Esnaf Begić sagt: „In Deutschland lebt mittlerweile die vierte Generation Einwanderer. Wir müssen diesen Menschen Angebote machen, sich noch stärker zu verwurzeln und sich zu diesem Land zu bekennen.“ Als ehemaliger Imam legt er besonderen Wert auf Predigten: „Sie müssen in deutscher Sprache gehalten werden und meine Lebenswirklichkeit widerspiegeln. Mich interessiert nicht, welche religiösen Themen für Muslime in Bosnien, Marokko oder Syrien gerade wichtig sind, da schalte ich nicht selten innerlich ab. “
Ausgebildet wird das Personal in verschiedenen Bereichen. Ein Schwerpunkt ist die politische Bildung. Auch hier weiß Begić, welche Lücken es in den Moscheegemeinden gibt – aus eigener Erfahrung. „Als ich nach Deutschland kam, wusste ich wenig über das Land – nur das, was im kommunistischen Jugoslawien propagiert wurde.“ Sprache, Kultur, Sitten, Regeln, Vorschriften – alles war damals neu für ihn. Deshalb, betont er, brauche es Aufklärung über die deutsche Geschichte, das politische System – und auch über Antisemitismus.
Esnaf Begić hat miterlebt, wie emotional junge Muslime auf die Verfolgung und Ermordung bosnischer Muslime im Bosnienkrieg Anfang der 1990er Jahre reagieren. „Der Schmerz einer muslimischen Mutter in Bosnien, einer jüdischen Mutter in Deutschland während des Holocaust oder auch der einer christlichen Mutter ist derselbe. Das muss für uns relevant sein.“ Geplant sind Projekte mit jüdischen Einrichtungen ebenso wie Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern.
Trotz aller Euphorie: Die Absolventen des Islamkollegs haben bisher keine beruflichen Garantien. Die meisten Moscheegemeinden können es sich nicht leisten, qualifiziertes Personal zu bezahlen. Deshalb sind theologisch-praktische und seelsorgliche Berufe eher unattraktiv. Für die muslimischen Verbände, sagt Begić, sei es an der Zeit, sich zu reformieren und sich als Religionsgemeinschaft im verfassungsrechtlichen Sinne zu organisieren – um wie andere Religionen in den Genuss finanzieller Privilegien zu kommen.
Zu keiner Zeit hat sich der Staat in die Lehrplangestaltung eingemischt
Alternativ könne der deutsche Staat diejenigen Moscheegemeinden finanziell unterstützen, die bereit seien, ihre Imame in deutscher Sprache ausbilden zu lassen. Begić denkt dabei an demokratie- oder dialogfördernde Programme auf Bundes- und Landesebene. Er weiß, dass diese Idee in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht gut ankommen wird – aber auch nicht bei allen Muslimen.
Der türkisch-islamische Ditib-Verband, die islamische Gemeinschaft Milli Görüs und der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) beispielsweise lehnen das Vorhaben des Osnabrücker Islamkollegs ab und bilden in eigenen Zentren zum Teil auf Türkisch aus – was andere Muslime ausschließt. „Ich nehme an, wir werden als Konkurrenz gesehen“, sagt Begić. Die genannten Verbände kritisieren, der deutsche Staat wolle einen eigenen Islam erschaffen. „Dieser Vorwurf ist haltlos. Wir werden zwar finanziell unterstützt, aber zu keiner Zeit hat sich der Staat in unsere Lehrpläne eingemischt.“
Esnaf Begić freut sich, dass es endlich losgeht. Da die Teilnehmer bundesweit verstreut sind, werden regionale Lerngruppen gebildet. Die Referenten besuchen einzelne Gruppen in München oder Mannheim, während sich die anderen online dazuschalten. „Das haben wir unabhängig von Corona beschlossen“, erklärt der Vorsitzende des Islamkollegs. „Die Pandemie hat uns in diesem Denken nur bestätigt.“
Anja Sabel
Zur Sache
- Die bundesweit erste unabhängige Imam-Ausbildung in deutscher Sprache startet am 15. Juni am Islamkolleg Deutschland in Osnabrück.
- Auch muslimische Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie Gemeindepädagoginnen und -pädagogen werden zwei Jahre lang praktisch ausgebildet. Alle haben in der Regel ein Studium der Islamischen Theologie abgeschlossen.
- Die Ausbildung umfasst sieben Bereiche: Predigtlehre, Koranrezitation, Seelsorge, politische Bildung, gottesdienstliche Praktiken, Gemeindepädagogik und soziale Arbeit.
- 25 Plätze sind zunächst für angehende Imame vorgesehen, 15 für die seelsorgliche Ausbildung. Auch Fortbildungen für tätige Imame soll es geben.
- Das Islamkolleg wird vom Bundesinnenministerium und dem Land Niedersachsen finanziell unterstützt.
- Zu den Gründungsmitgliedern gehören islamische Theologen und Verbände der Zentralrat der Muslime, die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken, der Zentralrat der Marokkaner, das Bündnis Malikitischer Gemeinden und Muslime in Niedersachsen. Andere größere Verbände wie die türkisch-islamische Ditib lehnen eine Zusammenarbeit bislang ab.