Gespräch mit Weltanschauungsexperten Johannes Lorenz

Neureligion aus Südkorea lockt junge Menschen an

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Frauen treffen sich und studieren die Bibel
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Foto: unsplash/daiga-ellaby

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Von Shincheonji-Mitgliedern werden intensive Bibelstudien verlangt. Für Hobbys und soziale Kontakte bleibt keine Zeit. Sie werden von ihrem Umfeld isoliert.

Der Weltanschauungs-Experte Johannes Lorenz aus Frankfurt warnt vor der südkoreanischen Neureligion Shincheonji mit christlichen Wurzeln. Die meisten Hilfesuchenden, die sich an ihn wenden, kommen von dieser Gruppierung. Der Austausch mit ihnen schärft auch seinen Blick auf die katholische Kirche.

Zu ihm kamen besorgte Eltern, deren Kinder sich zurückzogen. Es kamen ehemalige Mitglieder von Shincheonji, die sich betrogen fühlen und jetzt keine sozialen Kontakte mehr haben. Manche haben psychische Probleme. Die meisten Anfragen, die Johannes Lorenz in den vergangenen Monaten erreichten, hatten einen Bezug zu der Neureligion Shincheonji. Der Theologe ist kommissarischer Weltanschauungsbeauftragter für das Bistum Limburg in Frankfurt. „Die Gemeinschaft hat perfide Mechanismen entwickelt, wie sie Vertrauen aufbaut“, erklärt er. Um zu informieren und zu warnen, entschied sich Lorenz mit seinem evangelischen Kollegen Oliver Koch, ein Buch zu schreiben: „Die Seelenfänger von Shincheonji“.

Der Prediger Man-Hee Lee hat die Neureligion 1984 gegründet. Bekannt wurde sie 2020, als Anhänger in der Corona-Pandemie Schutzvorgaben ignorierten und zur Verbreitung des Virus in Südkorea beitrugen. In Deutschland gibt es seit Anfang der 2000er-Jahre Gemeinden in Essen, Stuttgart und Berlin. Zum Zentrum in Frankfurt gehören etwa 500 bis 600 Mitglieder. Shincheonji hat christliche Wurzeln. Einige Elemente sind jedoch nicht mit dem Christentum vereinbar. Ihr Gründer wird als verheißener Gottesbote der Endzeit aus der Offenbarung des Johannes verehrt. Seine Anhänger erwarten jederzeit den Ausbruch des Endkampfes. Nur sie sind vor dem Reich des Satans sicher, glauben sie. Die Bibel ist zentral und wird wörtlich verstanden. Nur die von der Gemeinschaft zulässige Interpretation ist erlaubt. Es wird stark zwischen der bösen Welt und der rettenden Gemeinschaft unterschieden.

Trotz dieser hochproblematischen Punkte möchte Lorenz nicht von einer Sekte sprechen. „Wir verwenden den Begriff nicht mehr. In der katholischen Kirche hat es Machtmissbrauch gegeben, daher sind wir nicht mehr in der Position, auf andere herabzuschauen, sondern – trotz aller notwendigen Kritik – immer den Dialog anzustreben“, erklärt er. Stattdessen spricht er von konfliktträchtiger religiöser Gemeinschaft. Sein evangelischer Kollege und er suchen das Gespräch mit allen religiösen Gruppen, zunächst ohne zu urteilen. Manch eine Gemeinschaft würde sich auch in ihren Strukturen ändern, berichtet er.

Was an Shincheonji im negativen Sinne einzigartig ist, ist ihre Art zu missionieren. „Nur die Mitglieder von Shincheonji werben verdeckt. Ihre Methoden sind psychologisch ausgeklügelt. Sie versuchen, über den Aufbau von Freundschaften neue Anhänger zu gewinnen. Dazu folgen sie einem festgelegten Skript“, sagt Lorenz. Die Gemeinschaft organisiert auch Veranstaltungen unter falschen Namen. Diese sind etwa als Friedenskonferenzen getarnt.

Eine häufige Methode funktioniert so, dass ein Mitglied einen Fremden in der Fußgängerzone anspricht. Unter einem Vorwand wird er oder sie zu einer Tasse Kaffee eingeladen, etwa, weil das getarnte Mitglied eine Umfrage für sein Studium machen muss. Ganz nebenbei spricht er oder sie Glaubensfragen an. Es entwickeln sich Sympathien, eine Freundschaft. Dann folgt eine Einladung zu einem Bibelkurs. „Zunächst erscheinen die Gruppen attraktiv für junge Leute, die alleine in eine fremde Stadt ziehen oder nach Orientierung in ihrem Leben suchen. Sie sind international, wirken offen und freundlich. Scheinbar trifft man dort Gleichgesinnte“, sagt Lorenz. Es sei ein gutes Gefühl, sich in einer Gruppe angenommen zu fühlen. „Doch es ist tragisch: Denn all diese Beziehungen sind nur ein Instrument, um neue Mitglieder zu gewinnen.“ Auch nehmen Mitglieder von Shincheonji online zu möglichen Anhängern Kontakt auf, etwa bei Dating-Plattformen.

„Mit Freundschaft hat das nichts zu tun“

Das Mitglied von Shincheonji schreibt nebenbei Informationen vom potenziellen Anhänger auf und leitet sie zur Zentrale nach Südkorea weiter. Diese möglichen Neumitglieder werden Früchte genannt, die es zu sammeln gilt. „Mit Freundschaft hat das nichts zu tun. Wie es dir als Mensch geht, wer du als Person bist, ist für Shincheonji nicht von Interesse, sondern dass du im System funktionierst“, erklärt Lorenz.

Ist man erst einmal in der Welt von Shincheonji, ist es schwer, wieder herauszufinden. Die Gemeinschaft verlangt viel Zeit für Mitarbeit in der Gruppe, etwa beim Reinigen der Räume. Dazu sind tägliche Bibelstudien gefordert. Da viele dankbar für die netten Bekanntschaften sind, lassen sie sich zunächst darauf ein. „Wenn Zweifel kommen, ist es meist schon zu spät. Dann hat man keine sozialen Kontakte außerhalb der Gemeinschaft mehr. Dazu kommt die Angst, doch vom Satan verführt worden zu sein, wie man es tagtäglich gehört hat. Wer die Gruppe verlassen will, muss sich von der Vorstellung entledigen, dass die Welt außerhalb von Shincheonji böse ist“, sagt Lorenz.

Durch seine Arbeit habe er auch einen wachsamen Blick nach Innen auf die katholische Kirche, sagt er. Das Wachsen von Shincheonji ist seiner Meinung nach ein Symptom für die Situation der etablierten Kirchen. „Wenn Menschen auf der Suche nach Orientierung sich neuen religiösen Bewegungen anschließen, ist das ein Zeichen für ihre Krise“, sagt der Theologe. Er mahnt, auch in der katholischen Kirche auf Strukturen zu achten, die spirituellen Missbrauch begünstigen, die die Lehre über die Menschenwürde des Einzelnen stellen. Lorenz sagt: „Christliche Gemeinschaften sollten dagegen so geführt werden, dass sie geistige Freiheit und die individuelle Persönlichkeit jedes Einzelnen fördern.“

Theresa Breinlich

Zur Person

Johannes LorenzJohannes Lorenz ist Studienleiter für Theologie und Philosophie im Fachzentrum Haus am Dom und kommissarischer Weltanschauungsbeauftragter im Bistum Limburg. Gemeinsam mit Oliver Koch hat er ein Buch geschrieben: „Die Seelenfänger von Shincheonji“, Herder Verlag, 25 Euro