Museum Lüneburg beleuchtet Wallfahrten in Norddeutschland
Nicht länger ein weißer Fleck
Wer im Mittelalter etwas auf sich hielt, machte sich als Pilger auf den Weg nach Altötting, Aachen, Rom oder Santiago de Compostela. Aber erst jetzt wird diese Tradition der Wallfahrt für Norddeutschland erforscht. Neueste Ergebnisse zeigt das Lüneburger Museum.
Es war eine echte Sensation! Als vor einigen Jahren bei der Entschlammung des Stader Hafenbeckens über 200 Pilgerzeichen im Schlick gefunden wurden, war es ein wichtiger Hinweis darauf, dass Norddeutschland – anders als bisher angenommen – eben kein weißer Fleck ist auf der Landkarte der Pilgerreisen des Mittelalters. Nach intensiven Forschungsarbeiten ist aus der Vermutung jetzt Gewissheit geworden. Auch zwischen Elbe und Weser machten sich viele Menschen auf, um ihr Seelenheil in einer Wallfahrt zu suchen. „Weg in den Himmel“ ist Titel einer Doppelausstellung, die zunächst in Lüneburg diese Geschichte der Wallfahrten erzählt, ab Herbst wird sie dann in Stade fortgesetzt.
Ein zu Unrecht vernachlässigtes Thema
Die Reformation hatte im seitdem überwiegend protestantisch geprägten Norden Deutschlands der Pilgertradition ein jähes Ende gesetzt. Und so gründlich für Vergessenheit gesorgt, dass selbst die letzte große Ausstellung zum Thema (vor 35 Jahren in München) nicht über die Mainlinie hinaus blickte. Wisnack in Brandenburg mit seiner Wunderblutkirche St. Nikolai, das für rund 150 Jahre wichtigste Wallfahrtszentrum Nordeuropas, wurde gerade mal in einer Randnotiz erwähnt. Wissenschaftler überließen das Thema lange Zeit fast etwas herablassend der Heimatgeschichte als eine Art Kulturkuriosum.
Völlig zu Unrecht. Davon kann sich jeder überzeugen, der das Lüneburger Museum besucht und der Abbildung der Jakobsmuschel, angebracht als Wegweiser auf dem Boden, in die beiden großen Ausstellungsräume folgt. Man muss schon etwas Zeit mitbringen und sich auf die vielen vor allem schriftlichen Dokumente einlassen – Urkunden, aufgeschlagene Bücher, Karten – um in die Materie einsteigen zu können. Hilfreich sind dabei die gut gemachten erläuternden Texte, die alles in den Zusammenhang einordnen. So entsteht nach und nach ein Bild davon, was die Gründe jener Zeit waren, die vertraute sichere Umgebung zu verlassen und sich auf oft genug gefährliche und entbehrungsreiche Wege zu machen: nach Aachen und Altötting, nach Rom, Santiago de Compostela, sogar bis nach Jerusalem.
Bekannt und trotzdem immer wieder faszinierend: Die Pilger fanden ihre weit entfernten Ziele ganz ohne Landkarten und Reiseführer, ohne Navi oder Google Maps. Sie folgten denen, die nach erfolgreicher Rückkehr die grobe Richtung vorgaben. Genauere Informationen über Wegbeschaffenheit, Unterkünfte, gefährliche Abschnitte und politische Verwicklungen waren in aller Regel Schnee von vorgestern. Längst nicht jeder, der sein Bündel schnürte und den Pilgerstab in die Hand nahm, kehrte in die Heimat zurück.
Üblich war es darum, vor dem Aufbruch ein Testament zu machen – zumindest, für jene, die Geld hatten. Große und kleine Landesherrscher machten sich erst auf die Reise, nachdem sie für den Fall der Fälle ihre Nachfolge geklärt hatten. So regelt auch Herzog Friedrich von Braunschweig-Lüneburg, genannt „der Fromme“, im Jahr 1449 die irdischen Dinge, betraut Stellvertreter aus der Ritterschaft, dem Klerus und dem Rat der Stadt Lüneburg mit den Regierungsgeschäften, weil er auf „pelgremasie wiise“ unterwegs sein wird, um „hillige stede in verne lande“ zu besuchen. Die Chronik des Rathauses berichtet, dass Rom sein Ziel ist, in päpstlichen Registern ist festgehalten, dass ihm und seiner Familie dafür Beichtbriefe genehmigt werden.
1518 erscheint dann tatsächlich auch ein Pilgerführer in niederdeutscher Sprache. Der Verfasser: Gerdt Helmich aus Hildesheim. Von diesem Druck gibt es schon lange kein Exemplar mehr. Was darin zu lesen ist, wissen wir lediglich durch den Braunschweiger Chronisten Philipp Julius Retmeyer, der darauf in seiner Kirchengeschichte vom Beginn des 18. Jahrhunderts Bezug nimmt und detaillierte Angaben zum Inhalt macht: Beschrieben sei, „wie eine solche Reise von Braunschweig ab, über Cölln am Rhein, bis Paris und endlich Compostell könnte angerichtet sein“.
Nach Rettung aus Seenot ein Silberschiff für Altötting
Dorthin wird nicht nur der Weg über Frank-reich genommen, sondern auch der Seeweg. Jeden März bricht von Hamburg aus ein Pilgerschiff auf. Das ist schneller, aber nicht weniger gefährlich. Heinrich der Mittlere von Braunschweig-Lüneburg kann davon ein Lied singen: Auf der Rückfahrt gerät er in Seenot und verspricht der Gottesmutter ein silbernes Schiff, sollte sie ihn retten. Darauf hin – man ahnt es – legt sich der Sturm und Heinrich lässt ein Schiffchen in der Gnadenkapelle Altötting aufhängen.
Die große Masse der Pilger bleibt namenlos. Doch gerade für sie, die Mittellosen, wird ganz selbstverständlich unterwegs gesorgt. Bei Lüneburg kümmerte man sich an der Hasenburg speziell um die Aachenfahrer, die sich alle sieben Jahre zur Präsentation der Reliquien aufmachen. Johann von Swendsbeck bestimmt 1407 im Testament, sie mit Bier und Brot zu bewirten. Und Beke Kolkhagen stiftet jährlich vier Mark, um ein Schutzdach mit Stühlen bereit zu halten.
Durchaus kommt es auch vor, dass man andere für sich auf Pilgerschaft schickt. So verpflichtet Tibbeke Barum 1503 unter anderem eine Person zu einer Wallfahrt in den Bremer Dom zu den Ärzteheiligen Cosmas und Damian – übrigens der bisher einzige Beleg für eine Pilgerreise nach Bremen.
Internet: www.museumlueneburg.de
Stefan Branahl