Digitalisierung in der Schule
Nie war das Lernen leichter als heute. Oder?
Foto: Andreas Hüser
An die Tafel! Die Tafel war der Horror. Ein dunkelgrüner Hochaltar, an dem wir Schüler einst mit Kreidestummeln Gleichungen lösen und lateinische Verben aufkritzeln mussten. Die Kreide staubte und quietschte. Die Rechnung ging nicht auf. Am Ende wurde alles mit einem stinkenden Schwamm weggewischt. Gedemütigt schulterte man seinen zentnerschweren Tornister und trottete nach Hause.
Thea Reil kennt das nicht. In ihrem Unterrichtsraum in der Schweriner Niels-Stensen-Schule gibt es zwar auch eine Tafel. Aber diese ist nur selten grün. Sie kann mal blau, gelb oder rot sein. Die Tafel funktioniert wie ein riesiges Touch-Display. Man kann Bilder, Landkarten oder Filme auf diese Tafel projizieren, oder auch Texte, die man vorher auf dem Handy geschrieben hat. Man kann mit dem Finger darauf schreiben, und das Geschriebene mit der flachen Hand wegwischen. Aufgaben, die ein Lehrer auf die Tafel wirft, finden die Schüler auf ihren mobilen Tablets. Sie können quasi die ganze Tafel mitnehmen und zu Hause weiterarbeiten. Deshalb muss Thea Reil aus der elften Klasse auch keinen zentnerschweren Ranzen schleppen. Vieles hat sie auf ihrem mobilen Endgerät – und sie entscheidet oft selbst, ob sie auf Papier oder digital arbeitet.
Der Vormarsch der elektronischen Kommunikationstechnik, die „Digitalisierung“, hat auch die Schule verändert. Vieles ist leichter geworden. Einige Wege der Wissensvermittlung waren früher unvorstellbar. Aber es tauchen auch neue Fragen auf.
In der Niels-Stensen-Schule diskutiert man etwa darüber, ob die Eltern jederzeit den tagesaktuellen Notenstand ihrer Kinder einsehen können. Sämtliche Daten der Schule liegen nämlich in einer Datencloud. Stundenpläne, Ausfälle, Vertretungen, aber auch Zeugnisse, Bewertungen von Klassenarbeiten und mündlicher Beteiligung kann man mit einer Zugangsberechtigung einsehen. „Aber will man das?“, fragt Paul Zehe, der Schulleiter. „Was wollen die Eltern? Was sagen die Schüler? Das diskutieren wir gerade mit der Schülervertretung.“ Die katholische Niels-Stensen-Schule in Schwerin hat gute Voraussetzungen für das digitale Lernen. Der Altbau der Schule wurde 2012 saniert und ein Neubau errichtet. „Wir mussten im Zuge des Digitalpakts keine Wände mehr aufstemmen, sondern konnten die Fördermittel für die digitale Ausstattung verwenden“, sagt Paul Zehe. Das Gleiche gilt für die Rostocker Don-Bosco-Schule.
Veränderungen bahnten sich seit langem an. Den entscheidenden Schub aber hat die Digitalisierung der Schulen durch die Pandemie im Jahr 2020 erhalten. „Corona hat die Entwicklung enorm beschleunigt“, sagt der Schweriner Schulleiter. „Sonst hätte das alles zehn Jahre länger gedauert.“
Die Corona-Zeit habe aber auch gezeigt, wo die Grenzen des digitalen Lernens liegen. Während des Lockdowns blieben alle Schüler drei Monate lang zu Hause, der Unterricht fand am Computer statt. „Wir wussten am Anfang nicht: Funktioniert das überhaupt?“, sagt Paul Zehe. „Heute ist klar. Distanzunterricht allein funktioniert nicht. Ich kann als Lehrer kein Gefühl für die Schüler entwickeln, wenn ich sie nicht erlebe, sondern nur ein zweidimensionales Bild von ihnen sehe.“ Gelitten habe in diesen Monaten nicht nur die Qualität des Unterrichts, sondern auch der Austausch im Kollegium. „Auch Lehrer sind soziale Tiere. Wir müssen sehr viel kommunizieren, Beobachtungen teilen und Absprachen treffen. Dafür brauchen wir den direkten Kontakt.“
Deshalb sitzen die Kinder und Jugendlichen wieder „live“ im Klassenraum, und ihre Lehrer treffen sich im Lehrerzimmer. Fast immer. Ganz abgeschafft sind Videokonferenzen und Homeschooling nämlich nicht. „Wir wollen diese Möglichkeit da nutzen, wo es sinnvoll ist.“ Nicht zuletzt deshalb, weil die digitale Kommunikation heute Berufsalltag ist und eingeübt werden will. Und wenn ein Kind länger krank ist, kann das Lernen zu Hause eine gute Hilfe sein.
Ohnehin steht die Schule vor der Aufgabe, eine Balance zwischen „digitaler“ und „analoger“ Welt zu finden. Paul Zehe: „Viele Schüler wünschen sich die klassische Form, mit Papier und Heft. Und: Geht’s nicht auch darum, die ,Basics‘ zu vermitteln – die Handschrift, das Zusammenspiel von Auge und Papier“ – oder die Fähigkeit, Ordnung in seinen Sachen zu halten. „Wenn ein Kind in der fünften und sechsten Klasse nicht gelernt hat, ein Heft zu führen, wird es sich auch nicht digital organisieren können.“
Lieber analog, lieber digital? Die Niels-Stensen Schule lässt sowohl Schülern als auch Lehrern viele Freiheiten. „Ich arbeite eigentlich lieber auf dem Papier“, sagt Thea Reil. Ihr Klassenkamerad Yves Damian Graap greift dagegen lieber zum „mobilen Endgerät“. Beides ist möglich.
Die digitale Revolution stellt die Schule aber noch vor andere Aufgaben. Das Wissen, das man früher im Kopf haben musste, ist heute jederzeit und überall abrufbar. „Iller, Lech, Isar, Inn, fließen zu der Donau hin.“ Wer muss das noch auswendig lernen, wenn – wie in der Niels-Stensen-Schule – alle ab der zehnten Klasse das schuleigene WLAN nutzen dürfen?
Und nicht nur das. Die „Künstliche Intelligenz“ schreitet voran. Wer fit darin ist, könnte sich theoretisch den Erlebnisaufsatz oder das Physik-Referat von einem KI-Programm schreiben lassen. Auch einige Lehrer der Schweriner Schule setzen bei der Unterrichtsvorbereitung „KI“ ein – es gibt Programme, die aus einer mathematischen Algebra-Aufgabe eine Sachaufgabe machen, oder Schulbuch-Kapitel zu Lückentexten umbasteln.
Für die Schüler gibt es in der Niels-Stensen Schule Vereinbarungen, welche technischen Hilfen benutzt werden dürfen und welche nicht. Daran müssen sich alle halten. Digitale Informationsquellen verbieten – das will die Schule ausdrücklich nicht. Es ist ja gut, wenn jemand weiß, wo er sich Wissen beschaffen kann, sagt Schulleiter Paul Zehe. „Klar, Künstliche Intelligenz kann dazu verlocken, sich das Leben leicht zu machen“, räumt er ein. „Aber sie steht nun einmal zur Verfügung. Deshalb ist es unsere Pflicht, den Schülern den Umgang mit den neuen Möglichkeiten beizubringen.“
Pflicht der Schule sei es aber auch, die kritische Distanz zu den neuen Informationsquellen zu lehren – und nicht allem auf den Leim zu gehen, was im Netz zu haben ist. „Jeder muss auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, wo die Grenzen des Algorithmus liegen. Die Technik nimmt einem nicht die Aufgabe ab, Fakten zu recherchieren und Quellen zu prüfen. Die Schüler müssen wahrnehmen: Aus ihrer Verantwortung für die Ergebnisse sind sie nie entlassen.“
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Lernziel Digitalisierung - Die Schule hat ihre Hausaufgaben gemacht
Digitales Lernen eröffnet eine neue Welt - für Schüler und Eltern, aber auch für die Schule. Die Bernostiftung und das Erzbistum Hamburg haben als katholischer Schulträger viel in den digitalen Ausbau in Technik, Personal und Fortbildungen investiert. Aber diese Anstrengung zahlt sich aus. Davon ist Jens Kruggel, der stellvertretende Stiftungsdirektor überzeugt. „Heute ist der gesamte Lehrkörper mit digitalen Endgeräten ausgestattet“, zählt er auf. „Wir haben in allen Gebäuden WLAN. 189 mobile Computer und 178 Tablets stehen den Schülern zur Verfügung. Und jeder der 85 Unterrichtsräume hat ein interaktives Tafelsystem. Ich war überrascht, wie schnell diese neuen Tafeln angenommen wurden.“ Mehr als eine Million Euro hat das Paket gekostet. „Das war nur möglich durch den Digitalpakt der Bundesregierung. 90 Prozent der Kosten haben wir aus Mitteln des Digitalpakts bekommen.“ Aber die Technik ist nicht alles.
Das gigantische Datensystem der Schulen beschäftigt zwei IT-Fachkräfte. Fortbildungen sind ständig nötig, denn die Entwicklung bleibt rasant. Und das Angebot von digitalen Lehrmitteln ist fast unüberschaubar. „Es gibt unzählige Einsatzmöglichkeiten, Apps, Plattformen und Co. – und wenn man den Versprechen der Anbieter glaubt, ist eine besser als die andere.“ Die digitale Welt ist nicht nur unübersichtlich, sie stellt jungen Nutzern auch diverse Fallen. Deshalb vermitteln die Schulen in „Medienkompetenzkursen“ den kritischen und reflektierten Umgang mit digitalen Medien.
Was braucht man, was ist überflüssig? Nicht immer weiß man das lange im voraus. Jens Kruggel: „Vor zwei Jahren kamen sechs Schüler aus der Ukraine in die zehnte Klasse.“ Damals war er selbst noch Lehrer an der Schule. „Die wurden sofort mit Fachtexten konfrontiert. Das war aber kein Problem. Mithilfe eines Übersetzungsprogramms wurden die Texte ins Ukrainische übersetzt und sofort ins Deutsche rückübersetzt.“