Schule unter Pandemiebedingungen bleibt schwierig

„Nur ein glückliches Kind kann lernen!“

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Schule unter Pandemiebedingungen ist auch nach zwei Jahren noch gewöhnungsbedürftig. Rebekka Martínez Méndez leitet die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Caritas Südniedersachsen. Die Psychologin beobachtet unter Schülerinnen und Schülern weiterhin eine erhöhte psychische Belastung im Vergleich zu Zeiten vor der Pandemie.



Rebekka Martínez Méndez beobachtet unter Schülerinnen und Schülern weiterhin eine erhöhte psychische Belastung.

Anders als im ersten Coronawinter verlief das Schuljahr bisher in Präsenz. Wie erklären Sie sich die weiterhin vermehrten Fälle an psychischen Krisensituationen unter Kindern und Jugendlichen?

Die meisten psychischen Erkrankungen entwickeln sich schleichend. Ständig wechselnde Bestimmungen fordern Jugendliche in ihren Bewältigungs- und Anpassungsmöglichkeiten enorm. Aktuelle Studien belegen mehr psychische Probleme im Vergleich zu vor der Pandemie. In der Beratungsstelle beobachten wir eine Zuspitzung der Symptomschwere.

Um welche Symptome handelt es sich?

Unter den depressiven Verstimmungen und Ängsten kommen vermehrt selbstverletzendes Verhalten, lebensmüde Gedanken, schwere soziale Ängste und auch ein gestörtes Schlaf- und Essverhalten vor. Früher hatten wir immer mal den ein oder anderen Fall mit Suizidgedanken, jetzt gehören solche Fälle zum Beratungsalltag.

Wie erklären Sie sich das?

Sicherlich hat es damit zu tun, dass die kinder- und jugendtherapeutischen Praxen an ihre Grenzen stoßen und wir mehr Jugendliche betreuen, die eigentlich eine Krankenbehandlung benötigen. Der Bildungsauftrag, den die Schulen wegen der vergangenen Schulschließungen sehr ernst nehmen, kommt bei Lernenden als erhöhter Leistungsdruck an. An vielen Schulen wurden Lernstandserhebungen durchgeführt. Sie wurden zwar nicht benotet, führten aber dazu, dass sich Einige zusätzlich unter Druck fühlen. Auch die Zahl der Prüfungen war vor Weihnachten sehr hoch. Bildungsauftrag und seelische Gesundheit geraten in der Pandemie offenbar in Konflikt. Das ist für alle Beteiligten schwierig.

 


Auch kleine Dinge wie bunte Murmeln können beim Glücklichsein helfen.

Welche Lösungen kann es geben?

Sowohl individuell als auch strukturell sollte etwas getan werden. Bei Einzelnen hilft ein Nachteilsausgleich. Ersatzleistungen könnten gewährt, Pausen-, Arbeits- und Vorbereitungszeiten angepasst werden. Sozial- und schulpolitisch brauchen wir verbindliche Präventionsprojekte zu psychischen Krisen im Jugend-
alter. Vor der Pandemie konnten wir solche Workshops vereinzelt anbieten, zur Eindämmung des Infektionsgeschehens sind sie derzeit ganz gestrichen.

Brauchen Schulen besonders sensibilisiertes Personal?

Für uns sind Schulsozialarbeiter wichtige Partner. Die sollte es überall geben, auch an Gymnasien. Sie sind mit den Jugendlichen unkompliziert im Kontakt und können Krisen vorbeugen. Eine Chance sehe ich im Ausbau der Nachmittagsbetreuung, gerade an weiterführenden Schulen.

Warum würde das helfen?

Für Jugendliche in psychischen Krisensituationen ist ein fester Rhythmus, ein verlässlicher Ort, an dem man nicht alleine ist, außerordentlich wichtig. Toll wären Hausaufgaben- und Lerngruppen, die nicht so groß sind wie ganze Klassen. Wenn dann Lehrkräfte für Nachfragen da sind, können die einen enormen Beitrag zur Stabilisierung der Psyche leisten.

Welche Rolle spielt die Psyche beim Lernen?

Nur ein glückliches Kind kann lernen! Und an der Glücksfront gibt es während der Pandemie große Einbußen. Viele weit verbreitete psychische Erkrankungen wirken sich massiv auf die Konzentrationsleistung aus. Wenn es jemandem schlecht geht, nutzt es nichts, das Lernen zu erzwingen. Durch seelischen Druck verschlimmert sich die Situation eher. Gefühle werden im Gehirn im limbischen System verarbeitet. Wenn dieses immer aktiviert ist, etwa bei Angst, dann fehlt die Aktivität im Cortex, wo kognitive Aktivität stattfindet. Wenn ich vor einem Löwen wegrenne, kann ich nicht gleichzeitig Integralrechnung betreiben. Bei depressiven Verstimmungen ist das Denken eingenommen von Sorgen, Ängsten und Unsicherheiten bezüglich der eigenen Person und den eigenen Fähigkeiten. Dann ist es häufig nicht möglich, in einer effizienten Art und Weise einen komplexen Text zu analysieren, weil die Grübeleien alle kognitiven Ressourcen binden.

Interview: Johannes Broermann
 

Mittel gegen psychische Krisen
Gemeinsam mit Eltern und Lehrkräften kann nach Mitteln gegen psychische Krisen gesucht werden.
Mit den Schulen sollten Fragen geklärt werden wie:

  • Können Anforderungen reduziert werden?
  • Gibt es bisher unbekannte Freiheitsgrade? Vorübergehend könnte auf bestimmte Aufgaben verzichtet oder eine Zeitgrenze für Hausaufgaben gesetzt werden.
  • Welche Möglichkeiten bestehen für eine Auszeit?
  • Können Lehrkräfte und Schulsozialarbeit mit einer gemeinsamen Strategie unterstützen?
  • Können Lernende häufiger konstruktives Feedback erhalten?
  • Lassen sich Lernprozesse durch Lernfreude steuern? Wenn ein Fach Spaß macht, könnte es Lernschwerpunkt sein.

Darauf können Kinder, Jugendliche und Eltern selbst achten:

  • Welche Lernstrategien helfen? Welche erzeugen mehr Stress? Spickzettel können kurz vor einer Prüfung auch einfach „verrückt“ machen.
  • Wie sieht ein Rhythmus mit Konzentrationsphasen und körperlicher Aktivität aus? So lassen sich Konzentrations- und Lernleistung nachweislich steigern.
  • Wie kann ich Belohnungen integrieren und Vorfreude produzieren? Vorfreude auf einen „Serien-Freitag“ unter Freunden hilft während der Schulwoche.
  • Gibt es Erfahrungen mit stabilisierenden Techniken? Was hat in Krisenzeiten geholfen? Bewusstes Atmen, Bewegungspausen oder autogenes Training können helfen.
  • Was hilft gegen Grübeleien? Grübeleien über Vergangenheit oder Zukunft erzeugen Stress und reduzieren die Konzentrationsleistung. Ein Ansprechen der Sinne (etwa durch Lieblingsmusik), aufmerksamkeitsbindende Tätigkeiten (wie ein Gesellschaftsspiel) und soziale Interaktion helfen.
  • Unter der kostenfreien Nummer 116 111 sind europaweit Kummertelefone für Kinder und Jugendliche erreichbar. Dort gibt es auch Auskunft über die nächstgelegene Beratungsstelle.
     

Glücksmomente suchen
Neue Webseite hilft gegen Corona-Blues
Weiterhin fühlen sich besonders Kinder, Jugendliche und Eltern durch die Pandemie belastet. Gegen schlechte Stimmung und regelrechten Corona-Blues sollen „Glücksmomente“ wirken, die durch die Familienzentren im Landkreis Göttingen und die Erziehungsberatungsstellen von AWO, Caritas und Landkreis verbreitet werden. Ihre Vorschläge veröffentlichen sie gemeinsam im Internet.

„Wir geben Anregungen, die sich mit einfachen Mitteln im Alltag umsetzen lassen“, erläutert Sozialpädagoge Markus Piorunek von der Caritas das Konzept. Auch die positiven Dinge des Alltags sollten wahrgenommen werden. „Wir wollen den Familien das Gefühl der Selbstwirksamkeit ermöglichen, sodass ein Gegenpol entsteht zum Gefühl, dem Pandemie-Geschehen ausgeliefert zu sein“, sagt Piorunek. Beispielsweise regt ein Podcast über einen kleinen Kniff mit Murmeln an, die schönen Momente des Tages zu sammeln und die eigenen Sinne für die alltäglichen Geschehnisse und Begegnungen zu öffnen. (job)

Alle Beiträge sind erreichbar unter: www.gluecksmomente-landkreisgoettingen.de