Seriensucht

„Nur noch eine Folge ...“

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Mit Netflix und Amazon Prime ist eine neue Sucht entstanden: die Seriensucht. Menschen schauen Fernsehserien bis zur Erschöpfung. Nicht jeder schafft es, mit dieser neuen Freiheit vernünftig umzugehen. Eltern können eingreifen, indem sie frühzeitig Grenzen setzen.


Schillernde Serienfiguren ziehen immer mehr junge Menschen in ihren Bann. Foto: picture alliance

Offiziell gilt das exzessive Ansehen von Fernsehserien noch nicht als Sucht. Dennoch haben Fachstellen mittlerweile vermehrt Patienten, die ihren Serienkonsum nicht mehr im Griff haben, sich isolieren. Vor allem der Schlaf leidet. Können Fernsehserien süchtig machen? Woran erkennt man, ob man abhängig ist? Wann wird der Konsum gefährlich und wie kann man gegensteuern?


Was ist Seriensucht?
Hinter dem Begriff verbirgt sich der übermäßige und nicht mehr kontrollierbare Konsum von Serien und Filmen. Gemeint ist nicht, dass man eine oder zwei Episoden anschaut, sondern deutlich mehr Folgen oder gleich eine gesamte Staffel. Problematisch ist der Kontrollverlust: Man kann nicht aufhören, vernachlässigt den Alltag und nimmt in Kauf, dass man die Umgebung verärgert. In der Wissenschaft heißt das Phänomen „Binge-Watching“ (übersetzt: Komaglotzen) und ist nicht ganz neu: Schon eine 2015 veröffentlichte Studie wies auf einen Zusammenhang zwischen mehrstündigem Videokonsum pro Tag und Einschlafproblemen, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und depressiven Stimmungen hin. Forschungen zeigen, dass „Binge-Watching“ parallel zur gesteigerten Verfügbarkeit von Mediendiensten wie Netflix oder Amazon Prime angestiegen ist. Dieser leichte und schier unbegrenzte Zugang ist das größte Problem dieser „neuen Droge“.


Wer ist gefährdet?
Bei jungen Erwachsenen tritt das Problem des „Binge-Watching“ derzeit verstärkt auf. Studienberatungen und Unizeitungen geben mittlerweile Tipps, wie man richtig Serien schaut, ohne das Studium und soziale Kontakte zu vernachlässigen. „Serienschauen hat das Potenzial, dich auszubremsen und abhängig zu machen, es kann dich aber auch stärken und deine Fähigkeiten fördern“, schreibt Coach und Studienberater Tim Reichel auf seiner Homepage „Studienscheiss“. So sei es wichtig, Selbstdisziplin und neue Routinen zu entwickeln und das Fernsehen als wohlverdiente Regenerationseinheit zu sehen, die aber auch ein Ende haben müsse. In der Jugendberatung sei das exzessive Serienschauen dagegen bislang noch kein großes Thema, berichten Beraterinnen der Caritasverbände Hamburg und Osnabrück.


Wie können Eltern und Freunde gegensteuern?
Spätestens wenn Menschen sich isolieren, sich nicht mehr für ihre Hobbys interessieren und schulische oder studentische Leistungen deutlich absinken, sollten Eltern, Lehrer und Freunde aufmerksam werden. Und sie können gegensteuern: indem sie schon früh Grenzen setzen. „Wenn ich als junger Mensch keine Einschränkung erfahre oder es für mich normal ist, etwas ohne Einschränkung zu machen, wird es umso schwerer, dieses eingeübte Verhalten später wieder abzugewöhnen“, betonte Wissenschaftler Claus-Peter Ernst, von der University of Applied Sciences bei der Vorstellung einer Studie zum „Binge-Watching“. Medienpsychologe Jo Groebel warnt jedoch davor, den modernen Serienkonsum zu schnell zu problematisieren: „Ab und zu mal ein verregnetes Wochenende mit einer Serie zu verbringen, würde ich nicht mit einer Sucht gleichsetzen. Verhaltensproblematisch wird es erst, wenn es das Leben und den Alltag bestimmt“, sagte er dem Internetportal „Meedia“. Solange der Konsum im zeitlichen Rahmen bleibe, sei das Serienschauen in Ordnung: „Viele Produktionen haben heute hohen literarischen Wert.“


Die Macht der Serien
Fernsehserien gibt es bereits seit Jahrzehnten. Allerdings gab es früher eine Folge pro Tag oder Woche. Heute warten Netflix und Co. mit ganzen Serienstaffeln auf. Am Ende wird es am spannendsten, so dass man unbedingt die nächste Folge sehen muss, um zu erfahren, wie es weitergeht („Cliffhanger“-Effekt). Psychologen vermuten, dass es für den Suchtfaktor vieler Serien einen einfachen Grund gibt: Sie befriedigen das menschliche Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit, Serienhelden werden als Freunde wahrgenommen: Für 20 bis 45 Minuten darf sich der Zuschauer im Kreise einer fiktiven Familie geborgen fühlen – ohne sich dafür verstellen oder antrengen zu müssen.


Fernsehen als Entspannung?
In einer Netflix-Umfrage 2013 gaben drei Viertel der Serienfans an, „Binge Watching“ als „willkommene Flucht vor ihrem hektischen Leben“ zu empfinden. Zu echter Entspannung verhilft das reglose Herumsitzen vor dem Bildschirm aber wohl nicht: Zum Stressabbau benötigen Körper und Geist vor allem Bewegung, erst recht, wenn man den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen hat.


Das Gedächtnis trainieren
Forscher aus Melbourne haben herausgefunden, dass „Binge Watching“ dem Gedächtnis schadet. Tim Reichel rät daher: Einfach den „Was-bisher-geschah-Teaser“ überspringen und versuchen, sich selbst an die letzte Folge zu erinnern. Auf diese Weise trainiere man sein Gedächtnis und könne sich viel mehr Informationen während der kommenden Minuten merken. Sein Motivationstipp: „Deine trainierte Erinnerungsfähigkeit wird sich spätestens vor der nächsten Klausur auszahlen.“

Astrid Fleute