Theaterfamilie Gassenhauer

Obdachlos im eigenen Geist

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Das war großes Theater auf kleinstädtischer Bühne. Eindringlich hat die Theaterfamilie Gassenhauer aus der katholischen Kirchengemeinde St. Ludgerus in Aurich in der Stadthalle Demenz „gespielt“. „Wow, das ging unter die Haut“, sagte nach der Aufführung ein Gast.


Sandra nähert sich ihrem dementen Vater an, krank und klein sitzt er neben ihr. Foto: Delia Evers

Ein Happy End gibt es nicht. Glückliche Ausgänge sind bei Demenz nicht zu erwarten. Um sie drehte sich zum Welt-Alzheimer-Tag das Stück „Wenn du verschwindest“. Es ist eine Nachricht für sich, wie intensiv die Kinder und Jugendlichen des sozio-kulturellen Theaterprojekts „Gassenhauer“ (siehe „Zur Sache“) das Thema verkörperten. Viele von ihnen haben physische und psychische Gewalt erfahren. Im jüngsten Stück wendeten sie sich dem Leid oft viel älterer Menschen zu. Die Leiterinnen der Gruppe, Isburga Dietrich und Elke Warmuth, haben mit Profiregisseur und Theaterpädagoge Claus Gosmann das Drehbuch geschrieben. Musik von Liedermacher Jann Janssen und Tanz von Psychologin und Tanzpädagogin Katharina Lühring bereichern alle Aufführungen.

Der Inhalt in Kürze: Angehörige von Demenzkranken treffen sich in einer Selbsthilfegruppe. Sie erzählen von ihren Erfahrungen. In immer neuen, dramatischen Rückblenden werden ihre Erlebnisse auf der Bühne lebendig. Aus dem Erzählten, dem Fernen und Fiktiven, wird das pralle Leben. Das Publikum sitzt mitten drin – und plötzlich auch im Streitgespräch zwischen Sohn und Schwiegertochter von Oma Roth.

Während Omas Demenz zunimmt und der längst verstorbene Opa Roth in ihrer kranken Welt häusliche Auferstehung feiert, zerbröselt der Familienfrieden. Was soll aus Oma werden? Wohin mit ihr? Ins Heim? Auf keinen Fall, klagen die Enkel. Gibt es eine bessere Lösung? Worte büßen ihre Bedeutung ein. Was ist gut für einen Kranken, was schlecht? Und was ist gut oder schlecht für die Familien?

Solchen Lebensfragen wenden sich die jungen Akteure zu. Sie nehmen ihr Publikum mit in die kleinen und großen Katastrophen, die sich in den Alltag schleichen – gerade so wie die Demenz sich in den Alltag schleicht. Die Darsteller bringen ihre Botschaften von Liebe und Einsamkeit, Hilfe und Überforderung, Vergessen und Verzweiflung so eindringlich herüber, dass das Publikum kaum weiß, ob es lachen oder heulen soll. Was gerade noch wie Komik aussieht, entlädt sich kurz darauf als Katastrophe, die über eine Familie hereinbricht.

Eine der Szenen: Oma Roth will in die Küche, um für Opa Essen zu kochen. Die Familienmitglieder scheitern daran, Oma in die Realität zu holen. Sie erfahren, wie sehr Realität und Wirklichkeit sich unterscheiden können. Oma Roth hat ihre eigene Wirklichkeit. Für sie ist das Tischtuch ein eleganter Umhang. Sie mopst ihn kess vom Tisch. Natürlich darf gelacht werden. Und doch ahnt jeder, dass sie mit dem Umhang unterwegs ist in eine Küche, in der das Wesentliche fehlt: ihre versunkene Welt mit Opa und anderen Schätzen, die ihr einmal Halt gegeben haben. Sie ringt die Hände. Sie weiß nicht, was los ist.

„Oh Gott, was ist mit meinem Kopf los?"

Die jungen Darsteller verdichten bravourös das komplexe Thema. Sie greifen zu auf das Leben in seiner ganzen Vielschichtigkeit. Unterstützt von erwachsenen Akteuren der St.-Ludgerus-Gemeinde zeigen sie die Gefühlslagen von Erkrankten, Angehörigen und Pflegekräften. Ihre Texte sind anspruchsvoll und klingen doch mitunter wie Nonsens – zum Beispiel als die Leiterin eines Pflegeheims für Demenzkranke erscheint, im Publikum Prospekte verteilt und ihrem Haus Qualitätsgüte im DIN-A-3-Format zuspricht. Über solche Sätze, die noch das Kranksein in eine Norm fassen, muss man erst einmal nachdenken.

Gibt es Helden in diesem Stück? Ganz sicher. Es sind die Menschen, die die Kranken aushalten und ihnen beistehen. Es sind Angehörige und Pflegende, die um Lösungen ringen und sich schuldig fühlen, ohne schuldig zu sein. Anders als Romanhelden tragen sie keinen Sieg gegen das Böse davon, weil es in der Demenz kein Gut und kein Böse gibt; sie erringen Siege anderer Art.

Protagonisten sind auch die Kranken. In einer Szene sind sie im „Din-A-3-Pflegeheim“ zu sehen: Sie hören einfach auf, der monotonen Choreografie ihrer Pfleger zu folgen. Ausgerechnet ihr erkrankter Geist macht sie unempfindlich gegen die roboterhafte Routine des Personals. Sie beginnen zu singen und fallen in einen Tanz. Mit einem Mal sind Erinnerungen wach. Das ist grandios gespielt. Hier treffen Patienten, die obdachlos im eigenen Geist geworden sind, auf ein Stück Heimat – in Liedern, in Geschichten von gestern, in einer Puppe oder einem vertrauten Gebet aus Kindertagen. Nie ist nichts.

Manche Szenen gebären eine eigene Poesie – als Oma Roth nächtens in ihrem Zimmer randaliert. Sie will wie immer Essen für Opa machen. Die Schwiegertochter geht mit ihr hinaus in die Nacht. Die ist zu weit fortgeschritten, um Essen zu kochen. „Siehst du“, sagt sie zur Oma, „es ist alles dunkel. So viele Sterne.“ Langsam kommen Darsteller auf die dunkle Bühne und zünden Lichter an. Oma Roth staunt: „Ja, so viele Sterne.“ In der Dunkelheit erlebt sie einen hellen Moment. „Oh Gott, was ist mit meinem Kopf los? Es ist Nacht.“ Das geht tief unter die Haut. Unter den Akteuren und im Publikum ist es furchtbar still. „Wenn du verschwindest“, flüstern alle Angehörigen gemeinsam ihren Trost, „bleibt immer noch ein Teil von dir.“

Der letzte Satz in diesem Stück ist gesagt. Hunderte von Menschen in der Stadthalle erheben sich. Sie verfallen nicht in rhythmischen Beifall und stampfen keine Rakete. Es ist, als hätten sie Sorge, ein Zuviel an munterer Zuwendung könne die Leistung und den Ernst der jungen Darsteller stören. Dieses Theater ist kein Jubelstück. Es ist ein Stück menschlichen Lebens. Eine weitere Aufführung ist nicht geplant. Dabei ist sie vielen zu wünschen.

Delia Evers


Theaterfamilie  Gassenhauer

Die Theaterfamilie Gassenhauer ist ein inklusives und generationsübergreifendes Projekt. Es hat seine Wurzeln in der St.-Ludgerus-Gemeinde Aurich, die die Aktivitäten über ihren Anpackerkreis mitträgt. Erdacht ist das Projekt für Kinder und Jugendliche, die physische und psychische Gewalt erlitten haben. Die 40 Jugendlichen beenden das Projekt mit einem Erfolgserlebnis: dem öffentlichen Auftritt vor echtem Publikum. Leiterinnen sind Isburga Dietrich und Elke Warmuth.