Jahresserie 2018 - "Heimat – Wie im Himmel, so auf Erden"
Offen sein für das Schöne der Welt
Heimat – „wie im Himmel, so auf Erden“: In der vierten Folge der Jahresserie geht es um „Die Erde als Heimat“. Wie gehe ich mit dem Planeten, mit der Schöpfung um? Carl Pinsel aus der Wetterau hat dazu ein besonderes Verhältnis. Der Landwirt ist auch Fotograf. Er hält die Schönheit der Natur im Bild fest und geht auf die Menschen zu. Auf der ganzen Welt. Von Bernhard Perrefort.
„Das hat mit meiner Neugier zu tun.“ Carl Pinsel antwortet ohne Umschweife auf die Frage, warum Heimat für ihn mehr ist als seine unmittelbare Umgebung. „Klar ist Heimat da, wo wir gerade sitzen“, betont der 64-Jährige und meint damit die Holzbänke im Garten hinter den früheren Ställen. Diese gehören zum Gebäudeensemble seines Bauernhofs, auf dem er mit neun weiteren Familienangehörigen wohnt. „Vier Generationen haben hier heute zu Mittag gegessen – vom drei Monate alten Säugling bis zur 87-jährigen Mutter“, ergänzt er noch schnell.
Rundherum ist an diesem sonnigen Frühlingstag ein nicht enden wollendes Vogelgezwitscher zu hören, das die ebenfalls nahe Autobahn kaum wahrnehmen lässt. Diesen Geräuschemix komplettieren kurz später noch die Glocken der Kirche in Altenstadt-Lindheim. Hier, in seinem Dorf in der Wetterau, fühlt sich der Landwirt Pinsel zuhause, die Nachbarn, die hiesigen Landschaften sind seine Heimat. Und täglich entdeckt er Neues – wenn er mit dem Auto rausfährt in die Umgebung, spazieren geht oder mit dem Traktor die Äcker bestellt. Immer dabei: die Kamera.
Schon lange ist aus dem früheren Hobby mehr geworden: Der Landwirtschaftsmeister hat sich später noch zum Mediengestalter ausbilden lassen. Und als Carl Pinsel vor einigen Jahrzehnten die Milchviehhaltung auf dem elterlichen Hof aufgab und sich auf den Anbau von Zuckerrüben, Mais, Gerste und Weizen auf 40 Hektar Ackerfläche konzentrierte, arbeitete er zudem als Fotograf und Maler. Seitdem kann er ohne Rücksicht auf die Kühe zuhause, die gemolken werden mussten, zusammen mit seiner Frau einer weiteren Leidenschaft nachgehen, dem Reisen. Die Welt ist für ihn zu einer „anderen Heimat“ geworden. So hat Pinsel einen Ordner auf seinem Rechner mit Fotos aus aller Herren Länder bezeichnet.
Island, Polen, Russland, Vietnam, Albanien, Kolumbien, Marokko, das Sultanat Brunei, Singapur, Ägypten, Mexiko – geschätzte 65 Länder hat Carl Pinsel seit seiner ersten 6000-Kilometer-Skandinavientour als 19-Jähriger „mit einem Freund im Auto meiner Eltern“ besucht. „Wo auch immer ich bin: Ich suche nach Motiven, die gut aussehen. Und wenn etwas Hässliches gut aussieht, fotografiere ich das auch.“ Das können dann schon mal rauchende Schlöte sein, die den blauen Himmel nur schwerlich erkennen lassen. „Ich will nicht fotografieren, was schon 100.000 mal zu sehen war“, erläutert der Wetterauer. „Die Bilder mache ich in erster Linie für mich. Danach bin ich manchmal süchtig.“
In seinen Ausstellungen „Heimat365“ in der Region und auf den Kalendern der vergangenen Jahre sind aber dennoch „nur“ Fotografien aus der Region zu sehen. Wenn auch aus ungewöhnlicher Perspektive, die den Betrachter staunen lässt, „obwohl er vielleicht schon viele Male an dem Motiv vorbeigefahren ist“, ohne es bewusst wahrgenommen zu haben, erzählt Carl Pinsel. Mit seinen anderen Fotos könne er derzeit auch nichts verdienen, dafür sei er nicht bekannt genug, gibt Pinsel zu.
Schade, denn auch diese Bilder verdeutlichen die Herangehensweise des Künstlers. Mit offenen Augen durch die Welt gehen oder fahren, Ungewöhnliches entdecken, schnell auf den Auslöser drücken und im Bild festhalten. Das kann im Einzelfall auch bei einer Gruppenreise aus dem Bus heraus geschehen. In der Regel nimmt er sich viel Zeit für ein passendes Landschafts- oder Menschen-Motiv. Und dann sondert er sich schon ab von seiner Familie oder von Mitreisenden und erkundet auf eigene Faust, gegebenenfalls mit seiner Frau, die Gegend. Gerne nutzt er jede Gelegenheit, zu verreisen: Aber einen ganzen Tag nur am Strand oder „,eingesperrt’ in einem Hotel oder Resort“ zu verbringen, nein, das ist Pinsels Sache nicht. Da nimmt er sich wie in Ägypten ein Taxi oder mietet sich wie jetzt auf Teneriffa ein Auto.
Mit Begeisterung erzählt der Lindheimer von Begegnungen mit den einfachen Menschen. „Uns wurde von Bewohnern eines portugiesischen Dorfes ganz in der Nähe eines großen Feriendomizils berichtet, wir sind die ersten Touristen seit zehn Jahren, die dahin gekommen seien.“ Mit leuchtenden Augen schildert er weiter ungewöhnliche Begebenheiten mit einem chinesischen Metzger auf einem Markt in Kuala Lumpur oder mit Taxifahrern in Kairo, die permanent rote Ampeln ignorierten. Sie seien aber auch eingeladen worden, man habe geholfen, einen Weg zu finden, oder sei so zufällig auf Menschen getroffen, die sogar Lindheim kannten. Faszinierend.
„Die Menschen sind doch überall gleich.“
Dies habe ihm schon die Mutter ans Herz gelegt, und er habe diese Erkenntnis auch den Töchtern weitergegeben. Mit Erfolg, berichtet der glückliche Vater. So werden Vorurteile abgebaut. „Meistens sind die Menschen in anderen Ländern offen und dann oft enttäuscht über die zurückhaltende Reaktion der Gäste“, so Pinsel.
Er empfiehlt, immer freundlich aufzutreten, sich auf die Menschen einzulassen oder sie einfach mal nach dem richtigen Verhaltenskodex in ihrem Land zu fragen, notfalls „auch mit Händen und Füßen“. So seien er und viele andere Teilnehmer einer Gruppe aus Altenstadt schon vor Jahrzehnten bei einem Besuch in einer polnischen Kleinstadt überrascht gewesen, „dass die Menschen auf uns zugekommen sind und uns aufgenommen haben, obwohl wir doch die bösen Deutschen waren“. Mittlerweile finden regelmäßig gegenseitige Besuche statt, auch jüngerer Generationen, in einer funktionierenden Städtepartnerschaft.
Über solch ein gelingendes Miteinander der Menschen freut sich der Landwirt und Fotograf. Das liegt in der Verantwortung eines jeden. Das ist Carl Pinsel wichtig. Genauso wie ihm die Erhaltung der Schöpfung ein Anliegen ist – nicht nur als jahrelanges engagiertes Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde, sondern vor allem auch als Mensch. Da sieht der Lindheimer alle Bürger in der Pflicht.
„Viele haben sich doch von der Natur wegbewegt, kennen ihre Gesetze gar nicht mehr“, bedauert er. Dennoch sieht er aber vieles schon wieder auf einem richtigen Weg. Störche hätten sich wieder angesiedelt, oder die Nidda in der Nähe seines Hofes sei renaturiert worden, verweist er auf Fortschritte, die sicherlich nicht ausreichten. Aber ein kompletter Verzicht auf Spritzmittel in der Landwirtschaft gefährde auch wieder die Versorgung mit Lebensmitteln, ist er überzeugt. Und doch sollten Landwirte an der einen oder anderen Stelle nachjustieren, rät der stets geerdet gebliebene Naturliebhaber Kollegen zu einem sorgsamen Umgang mit der Erde. Beispielhaft nennt er die immer schwereren Maschinen auf den Äckern: Dadurch werde der Boden stark verdichtet, was zu Ertragsminderung führen kann.
Ebenfalls wenig im Einklang mit der Natur hält Pinsel auch Werbebotschaften. „Sie fordern doch nur dazu auf, Sachen zu kaufen, die niemand benötigt. Brauche ich Obst aus Neuseeland, wenn ich hier noch alte Äpfel habe, die so schön runzelig sind?“, fragt er.
Ausstellung „Heimat365“ mit Werken von Carl Pinsel: 8. September bis 20. Oktober, LO STUDIO – Sabine Uhdris, Schlossgasse 22, 63654 Büdingen
www.pinselhof.de