Biologin Katrin Böhning-Gaese spricht über Artenvielfalt

So schön und so schützenswert

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Die Biologin Katrin Böhning-Gaese kommt ins Schwärmen, wenn sie von all den wunderbaren  Tier- und Pflanzenarten erzählt, die sie bei ihrer Arbeit schon gesehen hat. Im Interview berichtet sie, welche Arten sie besonders faszinieren, warum sie für uns  Menschen existenziell wichtig sind – und was wir tun können, um sie zu erhalten.

Preisgekrönte Biologin: Katrin Böhning-Gaese
Preisgekrönte Biologin: Katrin Böhning-Gaese

Welche Tier- oder Pflanzenart, die Sie bei Ihrer Arbeit gesehen haben, hat Sie besonders fasziniert?

Das ist eine schwierige Frage. Ich finde so viele Arten großartig. Aber richtig gepackt hat’s mich, als ich im Studium auf einer Exkursion in Spanien war. Wir hatten nicht viel Geld und haben mit Schlafsäcken in einem Flusstal übernachtet. Die Nacht war kalt, und als wir morgens aufstanden und bibbernd unterwegs waren im ersten Morgenlicht, saß da so eine Samtkopfgrasmücke auf einem Busch im ersten Licht. Sie hatte einen schwarzen Kopf und ein leuchtend rotes Auge, und darin hat sich die Sonne gespiegelt. Das sah so fantastisch aus!

Gibt es auch größere Tiere, die Sie begeistern?

Na klar! Die großen Rothirsche zum Beispiel. Die sieht man ja normalerweise selten, weil sie in den Wäldern leben. Aber auf dem Darß, in Mecklenburg-Vorpommern, sind die auch tagsüber im Freien unterwegs. Sie stehen im Schilf und röhren – und man kann ihnen vom Wanderweg aus zuschauen. Das sind solche mächtigen, riesigen Tiere, und die machen so richtige Kämpfe: Der eine versucht, den anderen lautstark zu überbieten. Unglaublich! Da bebt fast der Boden.

Sie schwärmen ja richtig.

Ja, und mir fällt gerade noch ein Erlebnis ein. Ich stand mal in einem Wald in Afrika, am Südabhang des Kilimandscharo. Da ist eigentlich alles unterhalb des Nationalparks abgeholzt. Aber es gibt noch ein paar Taschen von Wald in ganz tiefen Schluchten – und in so einer Tasche von Wald war ich. Und da stand tatsächlich der größte Baum Afrikas. Der ist über 80 Meter groß. Und der Wald war so magisch, dass ich dachte: Gibt’s das überhaupt noch auf dieser Erde? 

Was war daran so magisch?

Die Atmosphäre unter den riesigen Bäumen. Es war fast so, als würde ich in einer Kirche stehen. Die gotischen Kirchen sind ja auch riesig hoch und entwickeln dadurch dieses besondere Raumgefühl. Und zwischen den Bäumen hatte ich den Blick raus in die Savanne, auf 1800 Metern Höhe. Wahnsinn. 

Hat die Natur Sie schon als Kind so begeistert?

Nein, so richtig habe ich den Zugang erst im Studium gefunden, auf unseren Exkursionen. Dann ist meine Beziehung zur Natur immer intensiver geworden. Und ich habe gemerkt: Diese Beziehung kann man erlernen – und das bereichert einen. Man wird dadurch immer begeisterter.

Wie geht das: diese Beziehung zu erlernen?

Wichtig ist erst mal ganz einfach: Natur erleben. Draußen sein. Auch mal zu anderen Tageszeiten spazieren gehen, frühmorgens oder nachts. Und mit allen Sinnen beobachten. Dabei hat die Corona-Zeit in gewisser Weise geholfen. Sie hat die Leute auf ihre nähere Umgebung zurückgeworfen und sie haben zum Teil denselben Spaziergang monatelang immer wieder gemacht. Sie haben dabei vielleicht keine neuen Menschen kennengelernt – aber dafür einige Vogelarten. Leider sind besonders viele Menschen, die in Städten wohnen, mittlerweile massiv von der Natur entfremdet.

Wozu führt diese Entfremdung?

Sie führt dazu, dass der Artenschutz in der öffentlichen und politischen Debatte leider immer noch eine nachgeordnete Rolle spielt. Er gilt als weiches Thema, das nicht so relevant ist. 

Warum ist das ein Problem?

Weil wir Menschen existenziell auf die Natur angewiesen sind. Alles, was wir brauchen, kommt aus der Natur: die Luft, die wir atmen; das Essen, das wir essen; das Wasser, das wir trinken. Auch unsere Kleidung stammt aus der Natur: die Seide, die Schafwolle, die Baumwolle und die Lederschuhe, die wir tragen. Sogar viele Krebsmedikamente von heute sind aus Naturstoffen entwickelt worden. Selbst die fossilen Energieträger, mit denen wir heizen, sind Produkte der Natur. Leider ist das Bewusstsein für all das überhaupt nicht da. Wir müssen die Beziehung zur Natur wieder neu erlernen – über den Kopf, aber auch über die Seele. 

Wie kann das konkret funktionieren – außer durchs Rausgehen?

Ein zweiter Weg ist, in Museen Artenvielfalt zu erleben. Kinder zum Beispiel staunen da ja über die großen Dinosaurierskelette – auch das kann sie für die Natur einnehmen. Ganz viele Menschen ziehen ihre Naturerfahrungen auch aus Tier- und Naturfilmen. Sie sind über tropische Regenwälder oder den Rückgang der sibirischen Tiger besser informiert als über das, was vor ihrer Haustür passiert. Aber das ist natürlich auch ein legitimer Weg, um Naturerfahrungen zu machen.

Was genau ist eigentlich so problematisch daran, wenn immer mehr Arten sterben? 

Erstens sind wir Menschen, wie gesagt, total auf die Natur angewiesen. Und zweitens verlieren wir mit jeder Art unwiederbringlich alles, was in dieser Art an Wissen gespeichert ist – etwa über die Anpassung an das Klima oder an Fressfeinde und Krankheiten. Das ist, wie wenn eine Bibliothek in Flammen aufgeht. Dieses ganze genetische Wissen verschwindet dann für immer – auch für unsere Kinder und Enkelkinder.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Zu den Arten, die vom Aussterben am stärksten bedroht sind, gehören die Palmfarne. Die leben vor allem in der südlichen Hemisphäre. Da könnte man sich sagen: Wen kümmert’s? Sind doch weit weg, spielen für uns überhaupt keine Rolle, diese Arten. 

Aber?

Aber diese Gruppe hat von den fünf Massenaussterben auf der Erde drei überlebt. Und es sieht so aus, als ob sie das sechste, die von uns Menschen gemachten Veränderungen der Lebensräume und die Erderhitzung, nicht mehr überleben. Alle Fähigkeiten dieser Gruppe, über 200, 300 Millionen Jahre auf der Erde zu überleben, gehen verloren, wenn sie ausstirbt. Das ist dramatisch. Ich will mal eine einfache Metapher dafür benutzen: Wir nehmen da Knoten aus einem Netz raus, das uns trägt. Und wir denken: Das Netz wird uns schon weiter halten. Aber mit jedem Knoten, den wir rausnehmen, entstehen Laufmaschen. Und irgendwann trägt uns das Netz nicht mehr. Wir pokern, dass uns nichts passieren wird. Das ist sehr leichtsinnig. 

Ist das vielen Menschen zu wenig bewusst: dass es beim Artenschutz wie auch beim Klimaschutz um das Überleben von uns Menschen geht?

Leider ja. Die Natur wird immer weiterexistieren. Wir nicht unbedingt. Es geht hier um unser Überleben – und auch um ein gutes Leben. In Deutschland haben wir heute einen Wohlstand, wie es ihn auf dieser Erde noch nie gegeben hat. Das ist ein relativ junges Phänomen, dass es uns so dermaßen gut geht in den reichen Ländern des globalen Nordens. Wir stehen jetzt an einem Wendepunkt, und es kann nicht mehr so weitergehen. Wir leben total über unsere Verhältnisse. Und wir leben, genau wie bei der Klimakrise, auf Kosten der nächsten Generationen. 

Wie können wir wieder mehr das Bewusstsein dafür gewinnen, dass jede einzelne Art wertvoll ist? 

Wichtig ist, dass wir uns bewusstmachen: Wir Menschen sind im Lauf der Evolution als Teil der Natur entstanden – und wir sind auf tausendfache Weise mit der Natur verknüpft. Das heißt, wir haben auch eine emotionale und spirituelle Beziehung zur Natur. Die ist wichtig für unser Wohlergehen. 

Inwiefern?

In der Corona-Zeit haben wir das besonders gemerkt: Wenn wir da nicht rausgedurft hätten, wie schrecklich wäre das gewesen! Wie wäre uns da der Himmel auf den Kopf gefallen! Die Natur stellt uns nicht nur physische Güter zur Verfügung, sie dient uns auch zur Erholung: Wir entspannen uns in der Natur, wir sind dort glücklich, wir tanken neue Energie. Ich kann nur ermuntern, rauszugehen und diese Erfahrungen immer wieder selbst zu machen. Kleine Abenteuer kann jeder Mensch fast direkt vor der Haustür erleben.

Wo zum Beispiel?

Marschieren Sie einfach mal den Bach, an dem Sie wohnen, mit Gummistiefeln entlang und schauen Sie, wohin der führt. Verlassen Sie die ausgetretenen Wege. Oder übernachten Sie im Wald!

Einfach so?

Ja, wir haben das mit unseren Kindern gemacht. Hat wunderbar funktioniert: nur mit Isomatte und Schlafsack. 

Und? Wie war’s?

Abends waren die Kinder ausgelassen. Dann, als es später wurde, haben sie aber schon geguckt, dass sie zwischen uns liegen. 

Haben sie sich gegruselt?

Ich muss gestehen, so richtig gut geschlafen haben wir alle nicht, auch wir Eltern nicht.

Was war besonders aufregend?

Ich glaube, die Nachtgeräusche, die Tiere. Wenn da ein Waldkauz ruft, wenn eine Maus vorbeikommt oder wenn man den Wind oben in den Wipfeln der Bäume rascheln hört, dann ist man gleich aufmerksam. Man hört mit wacheren Sinnen zu als sonst. Und morgens, noch bevor die Sonne aufgeht, fällt der Tau. Man merkt, dass es plötzlich feucht wird. Da passieren gewaltig viele Dinge in der Natur, die man überhaupt nicht mitbekommt, wenn man nur in seiner Wohnung in der Stadt hockt. Für die Kinder und für uns selber waren die Nächte im Wald fantastische Erlebnisse. Dafür braucht man nicht nach Afrika fahren. 

Was kann jeder einzelne Mensch für den Artenschutz tun? 

Sehr viel, das ist das Tolle. Es hilft sehr, einen diversen Garten zu haben, eine blühende Wiese statt nur eines Rasens. Auf dem Balkon kann man Lavendel oder Salbei pflanzen, die locken Insekten an. Und man kann sich in seiner Stadt dafür engagieren, dass es statt Parks mit Rasen blühende Blumenwiesen gibt, dass es viele Bäume gibt und dass die Plätze in der Stadt nicht geteert sind. Und dass Dächer begrünt werden. Wir haben aber auch durch unser Einkaufsverhalten einen großen Einfluss auf den Artenschutz.

Inwiefern?

Am stärksten verlieren wir in Deutschland Artenvielfalt in der Agrarlandschaft. Also auf Äckern, Wiesen, Weiden. Das liegt daran, dass sie immer intensiver genutzt werden und dass da alles auf Produktivität getrimmt ist. Wir brauchen wieder eine stärkere Ökologisierung unserer Agrarlandschaft. Wenn wir nun Bio-Produkte kaufen, macht das einen Unterschied – weil auf biologisch bewirtschafteten Flächen die Artenvielfalt deutlich höher ist. 

Bio muss man sich aber auch leisten können. 

Das stimmt. Aber Bio-Produkte zu kaufen, hilft dem Artenschutz eben wirklich weiter. Auch bei Kaffee, Kakao oder Bananen wirkt es positiv – gerade weil in den Tropen, wo sie oft angebaut werden, die Artenvielfalt am höchsten ist. Der nächste wichtige Hebel ist: weniger Fleisch essen. Wenn wir zurück zum Sonntagsbraten gehen und nur noch einmal in der Woche Fleisch essen, macht das einen Riesenunterschied.

Warum?

Wenn jeder seinen Fleischkonsum auch nur halbieren würde, gäbe es viele Probleme gar nicht mehr. Für die Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch brauche ich 160-mal so viel Fläche wie für die von einem Kilogramm Kartoffeln. Ich muss das selbst immer wieder nachrechnen, weil die Zahl so unglaublich ist; aber sie stimmt. Weniger Fleischkonsum würde den Flächenverbrauch für unsere Ernährung also deutlich verringern. Das ist wichtig, weil wir schon jetzt eine unglaubliche Flächenkonkurrenz haben. 

Wie oft sind Sie der Verzweiflung nahe, wenn Sie sehen, wie schnell das Artensterben vorangeht und wie wenig dagegen getan wird?

Eigentlich mehrmals täglich. Man kann nur hoffen, dass die nächsten Generationen das Thema vorantreiben. Aber das ist ja auch so. 

Was gibt Ihnen sonst noch Hoffnung?

Ich forsche ja zum Artenschutz schon lange. In meiner Doktorarbeit habe ich über Bestandstrends von Vögeln gearbeitet, das ist jetzt über 30 Jahre her. Damals hat das niemanden interessiert. Langsam verändert sich das. Die Menschen sind offener für das Thema Biodiversität. Zurzeit fordert natürlich der schreckliche Krieg in der Ukraine unsere Aufmerksamkeit. Dennoch ist es wichtig, auch jetzt den Artenschutz im Blick zu behalten. Denn Probleme lösen sich ja nicht auf, nur weil wir sie nicht beachten. 

Genügt die aktuelle Aufmerksamkeit, damit es mit dem Artenschutz vorangeht?

Das muss deutlich mehr werden. Was mir Hoffnung macht, ist: Die Corona-Pandemie hat uns deutlich gemacht, dass fundamentale Veränderungen in unserem Verhalten möglich sind. Sie hat festgefahrene Regeln und Verhaltensweisen erschüttert. Die Krise hat das Bewusstsein dafür geschaffen, dass die sozial-ökologische Transformation, die wir brauchen, nicht mehr undenkbar ist. Es wird schwierig, aber es kann funktionieren. Was mir außerdem hilft, ist der Gedanke: Die Natur weiß sich auch selbst zu helfen. 

Inwiefern?

Wenn wir nicht gegen die Natur arbeiten, arbeitet die Natur mit uns zusammen. Wenn ich etwa den Rasen nicht allzu genau pflege, wird er von ganz alleine zur Wiese. Und wenn wir unsere Äcker nicht so übernutzen würden und mehr Brachflächen hätten, käme die Natur von alleine zurück. In Deutschland haben wir viele relativ robuste, resiliente Arten. Solange sie nicht ganz ausgestorben sind, werden sie sich wieder vermehren.

Interview: Andreas Lesch

 

Zur Person:

Katrin Böhning-Gaese (57) ist Biologin. Sie erforscht den Einfluss von Klima- und Landnutzungswandel auf Lebensgemeinschaften von Tieren. Sie arbeitet als Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums und ist zudem Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt, Vize-Präsidentin der Leibniz-Gemeinschaft und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. 

Im Jahr 2021 ist Böhning-Gaese mit dem Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet worden. Sie wurde damit für ihre Forschung zur Bedeutung der biologischen Vielfalt im System Erde-Mensch geehrt.