Woche für das Leben

„Was bleibt, ist dieser letzte Blick“

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Sechs Menschen hat Lokführer Bernd Ziegler (Name geändert) in seinem Berufsleben getötet – weil sie sich vor seinen Zug geworfen haben, um sich das Leben zu nehmen. Jedes Jahr passiert dies laut Statistik 1000 Mal in Deutschland. Doch wie geht ein Lokführer damit um? Bernd Ziegler erzählt.


Es ist der Albtraum eines jeden Lokführers, Menschen,
die sich mit seiner Hilfe das Leben nehmen wollen. In
Deutschland erlebt dies jeder Lokführer – statistisch
gesehen – drei Mal in seiner Dienstzeit . | Foto: kna

Ein altes Foto aus den 50er-Jahren – ein kleiner Knirps kniet neben seiner Spielzeugeisenbahn, hält eine Signalkelle in die Höhe. Gleich lässt er den Zug anfahren. Heute ist der kleine Junge über 60 Jahre alt. Er heißt Bernd Ziegler und es ist wahr geworden, was ihm alle prophezeit haben: „Du wirst mal Lokführer werden.“ Wahr ist auch, dass in Deutschland jeder Lokführer – statistisch gesehen – drei Mal in seinem Berufsleben einen Menschen überrollt.

Bei Bernd Ziegler waren es doppelt so viel, wie die Statistik sagt. Er hat sechs Menschen getötet. Sechs Menschen, die ihn zu ihrem Vollstrecker gemacht haben. Er zupft mit den Fingern an seinem Bart, es fällt ihm sichtlich schwer, sich an alle zu erinnern. „Seit Jahrzehnten habe ich nicht mehr darüber gesprochen, eigentlich habe ich nie darüber gesprochen“, sagt er und fügt rasch hinzu: „Ich war gern Lokführer, mich plagen auch keine Alpträume.“ Bernd Ziegler ist heute pensioniert. Er hat Lachfalten und zwinkert verschmitzt, wenn er Anekdoten aus seinem wildbewegten Eisenbahnerleben erzählt.

Die Toten seines Berufslebens aber scheinen tief vergraben in der Erinnerung, abgelegt ohne Jahreszahlen, und nur eine erweckt er ohne Schwierigkeiten zum Leben: die Erste. „Es war eine Frau, blond, Mitte zwanzig. Sie stand auf einem Trampelpfad zwischen Ahrensburg und Rahlstedt, da lief in meinem Kopf schon ein Film ab. Sie legte dann ihren Hals auf die Schienen und sah zu mir hinauf. Ich machte eine Vollbremsung.“ Doch eine 80 Tonnen schwere Lok steht nicht sofort. „Über Funk gab ich durch, eine Person überfahren zu haben. Dann musste ich mich übergeben. Aber nur dieses Mal, dann nie wieder.“

Niemand fragte nach dem Lokführer

Der zweite Tote war ein Schüler aus Schwarzenbek, gerade 17 Jahre alt. „Wir Lokführer erhielten an diesem Tag eine Warnung. Es gebe einen Jungen, der von der Schule geflogen und selbstmordgefährdet sei. Er lief aus einem Gebüsch vor meine Lok, es war nur ein Schatten, dann rubbelte es schon.“ Bernd Ziegler hatte an diesem Tag einen Auszubildenden mit auf dem Führerstand. „Er ist nicht wiedergekommen. Viele Kollegen, die einen Menschen überfahren haben, sind danach nie wieder auf eine Lok gestiegen.“

Als Torwart Robert Enke sich an einem Bahnübergang das Leben nahm, trauerte ganz Deutschland um ihn. „Wie es dem Lokführer danach ging, hat niemanden interessiert“, sagt Bernd Ziegler. „Ich frage mich, warum Selbstmörder andere damit belasten müssen. Sie sollten lieber ins Wasser gehen.“

Der nächste Tote war ein Mann, der am Bahnhof von Rahlstedt stand. „Er zog seine Jacke aus, stellte sein Bier ab und marschierte auf den Übergang, den es damals noch gab. Sein Körper ist auseinandergeflogen. Aus meinem Seitenfenster sah ich, wie wartende Fahrgäste ohnmächtig zusammensackten.“ Bernd Ziegler hat sich den Toten nicht angesehen, nie hat er sich einen von ihnen angesehen. „Ich wollte mich schützen, nicht zulassen, dass diese Bilder sich einbrennen.“
Vom Fahrdienst wurde er sofort abgelöst, wie auch bei den Selbsttötungen zuvor, dann für einige Tage vom Dienst freigestellt. „Psychologische Betreuung wie heute gab es damals noch nicht“, erklärt er. „Ich bin zum Brandungsangeln an die Ostsee und habe gemerkt: Du hast Glück, das holt dich nicht ein.“

Das Sterben des vierten Menschen hat Bernd Ziegler nicht bemerkt. „Der Mann hatte sich in Lübeck unter meinen stehenden Güterzug gelegt, unter einen der Waggons weiter hinten.“

Und der fünfte Suizidfall ist in seiner Erinnerung nur ein Geräusch, ein Knallen. „Es passierte auf der Strecke nach Lüneburg. In der Dunkelheit. Ich dachte, es wäre ein Wildschwein gewesen, habe das auch so gemeldet und bin weitergefahren. Später sagte man mir, dass es ein Mensch war.“

Das Thema Suizid war unter den Kollegen tabu

Im Kreis der Kollegen war das Thema Selbsttötung tabu, auch in der Familie sprach Bernd Ziegler nicht darüber. „Ich habe nichts mit nach Hause gebracht, die Tür der Lok zugeschlossen und es dort gelassen.“ Zwei Ehen scheiterten. Bernd Ziegler erklärt das so: „Für einen Lokführer gibt es keine Feiertage, keine richtigen Wochenenden, und der Schichtdienst hat schon viele Ehen ruiniert.“

Beim sechsten Mal sprang ein Mann in der Nähe von Bad Oldesloe aus dem Fenster eines fahrenden Zuges. Bernd Ziegler war auf dem Gegengleis unterwegs, der Körper des Mannes schlug gegen die Front seiner Lok.

Er erzählt: „Es klingt makaber, aber ich musste die Scheibenwischer betätigen, um wieder sehen zu können.“ Nach diesem Toten rief eine Psychologin bei Bernd Ziegler an und wollte wissen, wie es ihm gehe. „Ich habe geantwortet: ,Ich esse ein halbes Hähnchen und trinke ein Bier.“ Er muss lachen. „Sie schien verwirrt, und ich meinte, ich könne mir deswegen doch nicht auch das Leben nehmen.“

Alle Toten sind gesichtslos – bis auf eine

Er habe alles gut verarbeitet, sagt Bernd Ziegler auch noch nach über zehn Jahren seit dem letzten Suizidfall. Krank sei er geworden, das schon. Das Herz. Sechs Bypässe. „Die Ärzte sagten, das käme vom Stress im Job. Mag sein.“ Nach der Operation durfte er keine Loks mehr fah­ren, wurde ins Büro versetzt – bis zu seiner Pensionierung.

Heute fährt Bernd Ziegler oft Angeln. „Ich denke nur an die schönen Dinge“, versichert er. „Das holt mich nicht mehr ein, ich bin ja nie ausgestiegen und habe die Toten angeschaut. Meine Toten sind alle gesichtslos – alle, bis auf die blonde Frau mit ihren großen Augen. Das bleibt, dieser letzte Blick.“

Eckard Gehm