Ausstieg bei den Zeugen Jehovas

"Was hat das mit Liebe zu tun?"

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Fabian Kühnemann steht lässig vor einer Wand mit Graffiti
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Foto: Hellen Brumme

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Früher hat Fabian Kühnemann rigide Vorschriften befolgen müssen. Heute sagt er: "Ich kann alles machen, was ich will. Ich bin frei."

Fabian Kühnemann ist mit den strengen Regeln der Zeugen Jehovas aufgewachsen. Je älter er wurde, desto mehr musste er sich verbiegen. Er begann zu zweifeln. Im Alter von 24 Jahren wurde er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Er verlor fast alle Menschen, die ihm nahestanden – und gewann ein neues Leben.

Im Königreichssaal der Zeugen Jehovas in Osnabrück hatte sich das Komitee aus drei Männern wieder mit Fabian Kühnemann versammelt. Einer verkündete ihr Urteil. Er kannte Kühnemann, er war mit seiner älteren Schwester aufgewachsen. Doch von Vertrautheit war an diesem Tag nichts zu spüren, erinnert sich Kühnemann. Das Urteil lautet: Ausschluss. 

Drei Jahre ist das jetzt her, doch noch immer hat Kühnemann die Ereignisse dieses Tages im Kopf. Er stand, so erzählt er, danach unter Schock und fühlte sich auf einmal sehr leer. Und dachte: „Niemand von meinen Freunden hat jetzt noch Kontakt zu mir. Das Ding ist jetzt durch.“ Er ging nach Hause. „Da ist mir niemand hinterhergelaufen und hat gefragt, ob es mir gut geht, nix“, sagt Kühnemann. „Ich hätte mich ja vor den nächsten Zug schmeißen können. Es gibt genug Zeugen, die sich nach dem Ausschluss umbringen.“

Tatsächlich gibt es in Deutschland Berichte von Menschen, die sich nach ihrem Ausschluss von oder Ausstieg bei den Zeugen Jehovas das Leben nehmen. Im März 2023 tötete ein psychisch kranker Aussteiger in Hamburg sechs Mitglieder der Religionsgemeinschaft, verletzte weitere und erschoss anschließend sich selbst. Seitdem stehen die Zeugen Jehovas wieder in der öffentlichen Diskussion.

Nach eigenen Angaben hatten sie 2023 weltweit ungefähr 8 625 000 Verkündiger – so nennen sie ihre aktiven Mitglieder. In Deutschland waren es im Januar 2024 rund 178 000. Wie die katholische und evangelische Kirche sind die Zeugen Jehovas seit 2006 als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt; sie haben sich diese Anerkennung vor dem Bundesverwaltungsgericht erstritten. Trotzdem stehen sie in der Kritik, zum Beispiel weil sie den Kontakt zu Ex-Mitgliedern abbrächen, die dann sozial isoliert seien, sagt Michael Utsch. Er ist Psychotherapeut und Religionswissenschaftler und forscht an der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zu den Zeugen Jehovas.

Ein Sprecher der Zeugen Jehovas teilt auf Anfrage mit, es sei „nicht ganz richtig“, dass die Zeugen den Kontakt zu ehemaligen Mitgliedern konsequent abbrechen, auch wenn es enge Familienangehörige oder Freunde sind: „Jeder Zeuge Jehovas entscheidet nach seinem persönlichen religiösen Gewissen, ob er den Umgang mit ehemaligen Mitgliedern im Lichte der biblischen Gebote einschränken oder beenden will.“

Fabian Kühneman am Fenster mit einem Buch in der Hand
Früher hat Fabian Kühnemann mit der Predigtschule gelernt, Bibelverse anzuwenden und zu missionieren. Heute holt er sie nur noch selten aus dem Schrank. Foto: Luzia Arlinghaus

Kühnemann zweifelte vor seinem Ausschluss schon lange an den Lehren der Zeugen Jehovas. In seiner Kindheit war das noch anders gewesen. Da wollte er seine Eltern stolz machen. Mit einem Buch, der Predigtschule, lernte er schon im Alter von acht Jahren, Bibelverse anzuwenden und zu missionieren. Jeder Vortrag, den er in der Gemeinde hielt, jedes Kästchen in der Predigtschule, das er ankreuzen konnte, war ein Schritt zum Ziel, ein vorbildlicher Zeuge Jehovas zu werden.

Heute ist Fabian Kühnemann 27 Jahre alt. Er studiert Soziale Arbeit in Osnabrück, wohnt in einer WG, hört Musik, die ihm gefällt, feiert seinen Geburtstag und hat Freunde, die er sich selbst aussucht. Was normal klingt, kennt er erst seit drei Jahren. Seit er mit den Zeugen Jehovas gebrochen hat, ausgeschlossen worden ist und den Kontakt zu seinem Vater und all seinen Freunden verloren hat.

Früher waren all seine Freunde bei den Zeugen Jehovas. Die Schule war sein einziger Kontakt zur Welt außerhalb der Gemeinschaft. „Man wächst mehr oder weniger als Sonderling auf“, erinnert sich Kühnemann. Religionswissenschaftler Utsch sagt: „Im Extremfall sind die Zeugen Jehovas totalitär und meiden den Kontakt zu Andersgläubigen. Dahinter steht ein dualistisches Weltbild.“ Sie glaubten, die Welt werde von Satan regiert, auch andere Christen würden von ihm verführt und nur Zeugen Jehovas könnten erlöst werden. Was andere feiern oder was zum Alltag gehört, sei für die Zeugen Jehovas Satans Werk. In Kühnemanns Kindheit bedeutete das: Wenn in der Schule ein Buch über Zauberei gelesen wurde, las er ein anderes. Wenn die anderen Kinder Weihnachtsdekoration bastelten, bastelte er Winterdekoration. Und wenn ein Kind in der Schule Geburtstag feierte, sang er beim Ständchen nicht mit. 
Der Sprecher der Zeugen Jehovas erklärt, die Zeugen lebten „nicht in abgeschotteten Gemeinschaften, die von der Außenwelt abgeschnitten sind. Wir führen ein ganz normales Leben in der Gesellschaft.“ Gleichzeitig sei es „ganz natürlich, dass man sich zu denjenigen hingezogen fühlt und enge Freundschaften mit denen schließt, die die eigenen Überzeugungen und moralischen Standards teilen“. 

In der Bibel gibt es in der Offenbarung des Johannes die Prophezeiung, dass eine Endschlacht zwischen Gut und Böse kommen wird, an einem Ort namens Harmagedon. Die Zeugen Jehovas nutzen diesen Begriff, um vor einem Weltuntergang zu warnen und zur Bekehrung aufzurufen, erklärt Religionswissenschaftler Utsch. Laut ihnen würden die Bösen bestraft, nur Jehovas Zeugen könnten gerettet werden. Kühnemann erzählt: „Ich hatte immer Angst, dass ich nicht gut genug bin und sterbe, wenn Harmagedon kommt.“ Man könne, so habe es auf ihn gewirkt, „immer noch mehr predigen, mehr in der Bibel lesen, noch vorbildlicher sein“, sagt er. „Ich kann mich an keinen Vortrag erinnern, in dem gesagt wurde, du bist gut so, wie du bist, und Gott liebt dich einfach so.“

"Ich hatte immer Angst, dass ich nicht gut genug bin"

Dazuzugehören und getauft zu sein, reiche nicht unbedingt aus, um vor Harmagedon bewahrt zu bleiben, glauben die Zeugen Jehovas. Utsch sagt, wer sich nicht an den Versammlungen beteilige, keine Predigtdienste leiste, die Bibelschule nicht besuche und sich nicht an die Regeln der Gemeinschaft halte, werde laut der Zeugen Jehovas auf jeden Fall sterben. 

Der Sprecher der Zeugen Jehovas schreibt: „In der Bibel wird erklärt, dass ein Mensch nur dann gerettet werden kann, wenn er an Jesus glaubt und diesen Glauben durch die Befolgung der biblischen Gebote beweist.“

Je älter Kühnemann wurde, desto mehr Regeln musste er einhalten: kein Harry Potter, kein Pokémon, kein Mitmachen in einer Band. Keine ausgefallenen Frisuren, keine Tattoos, keine Piercings. Kein Kontakt zu Nicht-Zeugen Jehovas, auch nicht im Internet. Keine Partys, kein Studium, keine Selbstbefriedigung oder Sex vor der Ehe.

Die katholische Kirche verbietet Sex vor der Ehe offiziell auch. Praktisch hält sie sich aber längst aus den Schlafzimmern der Gläubigen heraus. Bei den Zeugen Jehovas ist das anders. Wer unverheiratet mit jemandem schläft, begeht nach ihrer Lehre eine schwere Sünde und müsse sofort beichten. Das tun die meisten auch. Denn sie glauben, dass Gott alles sehe und dem Sünder seinen Segen entziehen könne. „Ich habe daran geglaubt, dass ich sterbe, wenn jetzt Harmagedon kommt. Das war super ernst“, erinnert sich Kühnemann.

Bei der Beichte, so sagt er, müsse das Gemeindemitglied vor ein Komitee treten, das aus drei Männern, den Gemeindeältesten, bestehe. Es solle herausfinden, ob der Sünder seine Tat bereut und entscheide, ob er nur zurechtgewiesen oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Als guter Zeuge Jehovas müsse man laut der Logik der Zeugen Jehovas keine Angst vor dem Komitee haben. Denn Gott sehe, wer wirklich bereut, und beeinflusse das Urteil des Komitees.

Das Bibelstudium der Zeugen Jehovas, das aus den USA koordiniert wird, läuft in jeder Gemeinde auf der Welt gleich ab, denn alle lesen denselben „Wachtturm“-Artikel. Der „Wachtturm“ gilt als auflagenstärkste Zeitschrift der Welt und wird laut Utsch in über 500 Sprachen übersetzt. In den Artikeln würden „zentrale Bibelstellen behandelt und sofort ausgelegt“, sagt der Religionswissenschaftler. Jede Woche ist ein anderer Text mit dazu passenden Fragen dran. Fragen, auf die es nur eine richtige Antwort gibt. Kritische Interpretationen der Gemeinde seien nicht vorgesehen, sagt Utsch: „Durch diese Frage- und Antworttechnik fühlt man sich zurückversetzt in eine Schulklasse der 1960er Jahren, wo ein Lehrer die Hausaufgaben abprüft. Da ist von Meinungsvielfalt und Diskussion überhaupt nichts zu spüren.“ 

Der Sprecher der Zeugen Jehovas hingegen sagt, sie wollten sehr wohl, dass ihre Mitglieder beim Bibelstudium kritische Fragen stellen. Sie würden „immer wieder dazu angeregt, ihren eigenen Glauben zu prüfen und zu hinterfragen“.

Das erste Bild, das die meisten Menschen von den Zeugen Jehovas haben, ist wohl das des Haustürklinglers. Weil sie glauben, dass alle Menschen sterben, die nicht nach Gottes Willen leben, versuchen sie andere zu missionieren. Kühnemann machte diese Pflicht nie Spaß.

Aber nicht alles war schlecht für ihn bei den Zeugen Jehovas. Mit 22 hat Kühnemann für ein halbes Jahr in Kanada gearbeitet. Er ging zur nächsten Zeugen-Jehovas-Gemeinde und wurde sofort aufgenommen. Er fand dort Freunde, die Gemeinde verschaffte ihm einen Platz in einer Wohngemeinschaft. Auch um einen Job musste er sich nicht selbst kümmern. „Das war super easy. Man glaubt dasselbe, man liest dieselben Wachtturm-Artikel, man hat die gleiche Hoffnung“, sagt Kühnemann.

Religionswissenschaftler Michael Utsch
Religionswissenschaftler Michael Utsch
Foto: Martin Bahr/piqx.de

Zu zweifeln begann er, als seine Mutter 2019 bei den Zeugen Jehovas ausstieg. Da war er 23. „Ich war sehr krass verwirrt, weil Mama, so eine wichtige Bezugsperson, auf einmal alles über den Haufen geworfen hat, was sie mir Jahre lang beigebracht hat“, erinnert sich Kühnemann. Seine Mutter kritisierte zum Beispiel, dass in den Vorträgen der Zeugen Jehovas so viel Angst gemacht werde – obwohl es doch in der Bibel viele Geschichten gibt, die von Gottes Liebe zu den Menschen erzählen. Das passte für sie nicht zusammen. Nach ihrem Ausstieg verlor sie ihre Freunde und Bekannten. Schließlich ging auch die Ehe zu Bruch, weil der Vater weiter am Glauben festhielt.

Was Fabian Kühnemann immer schon verstört hat, waren die Komitees. Seit er Teenager war, musste er alle paar Jahre vor solch ein Komitee treten. Jedes Mal fürchtete er den Ausschluss; er fürchtete, damit seine Familie und seine Freunde zu verlieren. Einmal musste er zusammen mit seiner damaligen Freundin vor das Komitee. Beide hatten schon Zweifel an der Lehre der Zeugen Jehovas und hielten sich deshalb nicht an alle Regeln. Sie fanden es albern, dass Frauen und Männer sich nicht einmal zu zweit in einer Wohnung aufhalten dürfen, wenn sie nicht verheiratet sind. Aber sie hatten auch noch nicht alles abgelegt, was ihnen als Kind beigebracht wurde. Aus Angst vor Gottes Strafe beichteten sie. 

Der Sprecher der Zeugen Jehovas teilt mit, wer einen schweren Fehler begehe, werde „nicht automatisch exkommuniziert oder ausgeschlossen. Setzt sich jemand jedoch immer wieder über die Normen der Bibel hinweg und zeigt keinerlei Reue, wird er ausgeschlossen.“  Weiter schreibt er: „Wenn ein getaufter Zeuge Jehovas eine schwere Sünde im Sinne des biblischen Moralkodex bekennt, helfen ihm die Ältesten der Versammlung liebevoll, seinen Glauben zu stärken. Mit Geduld und Barmherzigkeit werden sie ihm geistlichen Beistand anbieten. Neugier nach intimen Details hat hier keinen Platz.“

Kühnemann hat das anders erlebt. Er erinnert sich, dass sechs Älteste vor ihnen gesessen hätten: drei Männer aus seiner Gemeinde und drei aus der seiner Freundin. Und sie hätten Fragen gestellt, die intimer nicht sein könnten: Wo war welches Körperteil, als die beiden alleine waren, zu welchem Zeitpunkt, mit welcher Absicht? Schon damals dachte Kühnemann: „Diese Komitees sind super demütigend. Deine Seele wird ausgezogen. Was hat das mit Liebe zu tun?“ Monate vor seinem Ausschluss spielte Kühnemann mit dem Gedanken, die Zeugen Jehovas zu verlassen. Er überlegte zu prüfen, ob das, was die Zeugen ihm eingetrichtert hatten, stimmte. Ob die Welt wirklich lieblos und grausam war und er wahres Glück nur bei den Zeugen Jehovas finden könne. Aber dann verwarf er den Gedanken doch – und blieb.

Ein typischer Fall, wie Religionswissenschaftler Utsch ihn schon mehrmals gehört hat. „Die kritische Vernunft empfiehlt das Verlassen der Gruppe“, sagt er. Doch die Angst davor, plötzlich ohne Familie und Freunde dazustehen, hemme die Betroffenen. Es falle ihnen schwer, alles hinter sich zu lassen, was sie über „die böse Welt“ und Harmagedon gelernt haben.

Ein paar Wochen vor seinem Ausschluss machte Kühnemann sich wieder Vorwürfe, denn seine Regelverstöße häuften sich. Eigentlich wusste er, was zu tun ist: beichten und hoffen, dass das Komitee ihm noch eine Chance gibt. Ihm war aber auch klar, dass sie ihn diesmal nicht so leicht davonkommen lassen würden.  

Schließlich fragte er seinen Vater. Ein Fehler, denn der Vater war im Gegensatz zu seinem Sohn überzeugt von den Lehren der Zeugen Jehovas. Er riet ihm zu beichten, und Fabian Kühnemann wusste: Wenn er jetzt nicht beichtete, würde es sein Vater früher oder später für ihn tun und dann wäre sein Ausschluss sicher.

"Du bist direkt raus. Als wärst du tot."

Also trat Fabian Kühnemann vor das Komitee. Und wurde ausgeschlossen. Später schrieb er alles auf. Warum er ausgeschlossen wurde und warum er nicht mehr an die Lehren der Zeugen Jehovas glaubt. Er schickte seine Geschichte an all seine Zeugen-Kontakte. Kaum jemand antwortete. Die meisten blockierten ihn sofort. „Leute, mit denen ich aufgewachsen bin. Enge Freunde von mir. Alle“, sagt Kühnemann. „Du bist direkt raus. Als wärst du tot.“

Heute hat er diesen Schock überwunden. Heute, sagt er, „ist alles besser“. Er lacht. „Ich kann alles machen, was ich will. Ich bin frei. Ich darf ‘ne Meinung haben. Ich kann selber entscheiden, was mir guttut und was nicht.“ In seinem Studium hat er neue Freunde gefunden. „Die besten Freunde, die ich jemals hatte.“

Von Religion hält er nichts mehr. Er sieht in den Geschichten der Bibel nur noch „semihistorische Dokumente“, die keinen Mehrwert hätten: „Ich kann nichts mehr glauben. Ich wünschte, ich könnte es, aber ich kann es nicht.“

Warum er seine Geschichte erzählt? Fabian Kühnemann erinnert sich, dass ihm beim Predigtdienst an Haustüren häufig Leute sagten, sie seien zwar selbst nicht interessiert, schätzten aber die Arbeit der Zeugen Jehovas. Er denkt: „Die Leute haben gar keine Ahnung, wie gefährlich die Zeugen sind.“

Luzia Arlinghaus