Schullandheim Schloss Dreilützow
Was Kinder wirklich brauchen

Foto: Andreas Hüser
Stefan Baerens vor dem Hauptgebäude des Schlosses Dreilützow bei Wittenburg.
Heute kommen nur zwei Busse. Also nicht ganz so viel Stress. Ein guter Tag für ein Gespräch mit Stefan Baerens, dem Leiter des Caritas-Schullandheims Schloss Dreilützow in Mecklenburg. Morgen werden vier Busse kommen. Jeder Bus wird eine Schulklasse ausspucken. Kinder, die Ben, Mia und Oskar heißen. Auch eine Chantal und ein Jeremy-Pascal werden dabei sein. Aber es kommen auch Ahmed, Fatima und Jewgenija. Einige sind weit gereist oder geflohen. Andere haben das Ortsschild ihres Dorfes noch nie von hinten gesehen.
Was sich dann abspielt, ist immer dasselbe. „Ich will oben schlafen!“, brüllen die Lautesten. „Wie heißt das WLAN-Passwort?“ Es gibt Kinder, die fast nichts dabei haben. Es gibt andere, die hinter einem gewaltigen Rollkoffer verschwinden. Rucksäcke gibt es kaum noch, nur noch Rollkoffer. „Wie kriege ich den die Treppe hoch?“ Im Hotel hat das ein Angestellter gemacht. Das Schloss Dreilützow ist kein Hotel, kein Kreuzfahrtschiff. Es gibt einen Schlossgeist, aber kein WLAN. Eine Woche hier kann eine Entziehungskur sein. Oder auch ein Erlebnis, das das Leben verändert.
Stefan Baerens (56) leitet das das Schloss Dreilützow seit mehr als 25 Jahren. Als er einstieg, gab es in dem 280 Jahre alten Gutshaus 50 Übernachtungsplätze. Heute sind es 180. Schritt für Schritt haben Baerens und sein Team das Anwesen vergrößert, alte Gebäude ausgebaut, neue Erlebnisfelder entwickelt. Eines dieser Projekte heißt „Draußen“. Baerens oder ein Kollege geht mit Kindern in den Wald. Nichts Besonderes? Für die Kinder schon. „Draußen“ ist für viele von ihnen so fremd wie ein anderer Planet. Stefan Baerens beschreibt das so: „Zwischen den Blättern an den Bäumen und den heutigen jungen Menschen, zwischen den Augen der Jugendlichen und den Vögeln hat sich ein mobiles Endgerät eingeschlichen und festgesetzt. Unsere Kinder schauen nur selten nach oben. Eher blicken sie nun nach unten auf das Gerät in ihrer Hand.“
Wenn seine jungen Gäste selbst entscheiden dürften, würden die meisten ihre Woche im Zimmer verbringen – in Sicherheit und mit sich selbst beschäftigt, berieselt von schriller und belangloser Unterhaltung aus dem Netz.
„Wer hier ankommt, der beginnt eine Reise in eine andere Welt“, sagt Baerens. Ein fremdes Haus will erforscht werden, fremde Menschen begegnen sich auf den Fluren. Mit Fremden in einem Zimmer schlafen, Regeln einhalten, Ansprüche zurückstellen, eine Wanderung machen, all das ist Neuland. Und: Dieses Land muss selbst betreten werden.
Was die Leute von Dreilützow mit „Kindern von heute“ erleben, ist oft grotesk. „Wir schmunzeln über die Skurrilitäten dieser Generation“, räumt Stefan Baerens ein. „Aber was wir kritisieren, was wir als Sumpf bezeichnen, das sind in Wirklichkeit nur wir. Wir haben eine Welt konstruiert, die Kinder verwirren muss, die sie ängstigt, deren Komplexität sie nicht bewältigen können. Wir an ihrer Stelle wären nicht anders.“
Mit dem Handy allein? Oder in einer Gruppe unterwegs?
Eine verlorene Generation? Es gibt auch Wege hinaus aus dem geschlossenen Zimmer. Stefan Baerens setzt auf die Selbstheilungskräfte der jungen Menschen. Er sieht: Was Kinder brauchen, ist die eigene Erfahrung, das „Draußensein“, und das Erlebnis der gleichaltrigen Gruppe. „Ich glaube, dass Gruppen die Kraft haben, die Gesellschaft zu verändern.“ Die selbstgewählte Jugendgruppe, sagt der Sozialarbeiter, ist etwas anderes als die Schulklasse. Die große Gruppe ist besser als die kleine, „weil da jeder seinen Counterpart findet“. Kinder lernten voneinander, sie entwickelten „soziale Kompetenz“ und Selbstvertrauen.
Das sagt Stefan Baerens nicht nur heute. Als Vorsitzender des Landesverbandes der Schullandheime streitet er seit langem für die Interessen von Jugendlichen. Jeden Tag arbeitet sein Team am Neuland, das entdeckt werden kann. Dafür wird ihm am 30. Juni der Siemerling-Sozialpreis des Dreikönigsvereins verliehen.