Michael Schulz ist seit einem Unfall vor 25 Jahren blind
Weihnachten spüren
Fast jedes Haus, fast jede Straße glitzert und funkelt in diesen Tagen. Michael Schulz kann von diesem Lichterglanz allerdings nichts sehen. Seit einem Unfall vor 25 Jahren ist der Papenburger blind. „Aber ich vermisse nichts zu Weihnachten“, sagt er.
„Mama, machst du die Kerzen an?“, fragt Michael Schulz. Der 48-Jährige ist mit seinem Rollstuhl an den Tisch gefahren und schaut in die Richtung seiner Mutter. Wir sitzen im Wohnzimmer der Familie, das Rosi Schulz mit roten Beeren, Kiefernzweigen und Tannenzapfen adventlich dekoriert hat. Mit Schleifen, Sternen und Christbaumkugeln hat die 64-Jährige auch den großen Adventskranz in der Ecke geschmückt. Und dort steckt sie jetzt die Kerzen an. Michael Schulz dreht kurz den Kopf um – er hat das Zischen der Zündhölzer gehört und den leichten Geruch nach Schwefel wahrgenommen. „Du machst es jetzt romantisch“, sagt er lächelnd. Sehen kann er davon nichts.
Seit über 25 Jahren ist der Papenburger blind – seit diesem Tag in Sommer 1993, der sein ganzes Leben verändert hat. Da ist er mit einem Bekannten im Urlaub auf Kreta. Der begeisterte Motorradfahrer macht eine Tour über die griechische Mittelmeerinsel – und knallt bei einem Unfall gegen eine Felswand. Er erleidet schwere Verletzungen am ganzen Körper, auch am Kopf. „Seine Überlebenschancen lagen bei gerade vier Prozent“, erzählt seine Mutter, fährt sich über beide Augen und scheint diese Nachricht noch einmal zu durchleben.
Die Familie setzt damals alles in Bewegung und schafft es, dass der Sohn sofort in eine Klinik nach Deutschland ausgeflogen wird. Mehrere Monate liegt er im Koma, muss mehrfach operiert werden, eine lange Rehabilitation machen und manches ganz neu lernen. Er selbst kann sich an die erste Zeit nicht mehr erinnern. „Ich bin wach geworden und hab nur gedacht: Jetzt muss aber irgendwer das Licht mal wieder anmachen.“ Aber so funktioniert es nicht, seine Sehnerven sind bei dem Unfall durchtrennt worden.
„Ich bin zu 100 Prozent blind.“ Heute kann er das einfach so sagen, aber damals war das nicht so einfach. Erst nach und nach realisiert Michael Schulz, dass er nie wieder sehen und nie wieder richtig laufen kann. „Ein Jahr hat es gedauert, bis ich das akzeptieren konnte. Die ersten sechs Monate wollte ich mich nur noch umbringen.“ Er ist zum Zeitpunkt des Unfalls erst 23 Jahre alt, gelernter Ziergärtner, will später in den Familienbetrieb einsteigen – will arbeiten, reisen, feiern, leben, lieben, lachen. „Es hatte alles keinen Sinn mehr – dachte ich.“
„Mir geht es gut und das Leben ist ein Geschenk für mich“
Seine Familie holt ihn aus diesem Loch heraus, kämpft mit ihm und für ihn. Jeden Tag sitzt einer von ihnen an seinem Krankenbett: Eltern und Großeltern, Geschwister, Verwandte. „Ich war nie allein“, sagt er und ein paar Tränen schleichen sich in seine Stimme. Sogar am Heiligabend kommen sie, bringen Geschenke mit und singen mit ihm Weihnachtslieder. „Ich war immer ein Teil des Ganzen. Meine Familie hat mir immer das Gefühl gegeben, du gehörst zu uns.“ Auch sein Glaube hilft. „Der ist seit dem Unfall viel intensiver geworden. Ich darf glauben und bin froh darüber.“
Aber ist er nicht manchmal richtig sauer über sein Schicksal? Der 48-Jährige schüttelt den Kopf, seine Haltung zum Leben hat sich sehr verändert. „Ich weiß genau, dass ich nie wieder sehen und nicht mehr gut laufen kann. Aber ich bin deswegen nicht weniger wert als die anderen. Mir geht es gut und das Leben ist ein Geschenk für mich.“ Das ist kein leerer Spruch. Michael Schulz, der am vierten Advent seinen Geburtstag feiert, strahlt diese Haltung aus. Bei unserem Gespräch lacht und scherzt er viel, erzählt gern von seiner Arbeit im Lukas-Heim in Papenburg. In der Werkstatt für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen übernimmt er verschiedene Montagearbeiten. Auch dort sind die Räume jetzt festlich geschmückt. Da funkeln wie in den Straßen und Häusern die Lichterketten um die Wette.
Er weiß noch von früher, wie das aussieht. Die Bilder haften in seiner Erinnerung. Fehlt ihm etwas, weil er davon nichts mehr sehen kann? Er schüttelt den Kopf. „Ich vermisse nichts zu Weihnachten“, sagt Michael Schulz. Er findet es gut, dass seine Mutter Rosi das Haus vom Eingang bis unter das Dach hübsch dekoriert, dass sie Schwibbögen und Räuchermännchen aus dem Erzgebirge in die Küche stellt und die meterhohe Nordmannstanne im Wohnzimmer ganz traditionell in Gold und Rot verziert. „Ich brauche das“, sagt er. „Das war immer so und das bleibt auch so.“ Mehr noch als früher ist ihm diese Sicherheit wichtig. „Daran kann ich mich festhalten.“
Er spürt, wie sich die Stimmung in der Adventszeit verwandelt
Und auch wenn er nichts davon sehen kann – Michael Schulz spürt, wie sich das Haus und die Stimmung darin verwandeln. „Das ist ein angenehmes Gefühl.“ Mit einem Lächeln erzählt er, wie er am ersten Advent mit seiner Mutter morgens früh vor der ersten Kerze gesessen und Musik gehört hat. „Das war richtig schön.“ Genau wie die Düfte in diesen Tagen aus der Küche: nach Tee und Nelken, nach Plätzchen, nach heißen Waffeln mit Sahne und Kirschen. Und natürlich gönnt er sich auch mal einen Pott Glühwein und eine Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt. Mehr noch aber ist ihm die Familie rund um die Feiertage wichtig – vor allem, wenn seine Geschwister, die Nichten und Neffen zu Tee und Keksen kommen. Dann gibt es ein großes Hallo, dann wird lange gesessen und lange geklönt. „Und ich bin mittendrin.“
Er schaut wieder in Richtung des Adventskranzes, an dem die Kerzen brennen. Eine kleine Angst schlummert doch in ihm. „Dass ich irgendwann die Farben vergesse – dass ich vergesse, wie Rot aussieht.“ Wie erklärt man eine Farbe? Wie erklärt man, dass die Kerze und die Kugeln leuchtend rot sind? „Das ist warm“, sagt seine Mutter. Wie der Schein des Feuers, wie die Wärme der Flamme, wie das Gefühl an Weihnachten.
Petra Diek-Münchow