Brauchtum im Bistum: Tischgebet
Wertvolle Familientradition
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Auf dem Bauernhof von Albert Wiese in Twistringen wird vor und nach dem Essen ein Tischgebet gesprochen. Das ist dem Landwirt wichtig. Er ist überzeugt, dass sich dieses Ritual auch positiv auf das Miteinander auswirkt.
Es ist nur ein kurzer Moment, bevor alle hungrig zugreifen, aber dieser Moment – ein Moment dankbarer Verbundenheit – ist Albert Wiese ganz wichtig. „Ohne Tischgebet geht gar nichts“, sagt der Landwirt aus Twistringen. Er lacht. „Selbst unsere Enkelkinder wissen das und fangen nicht einfach an zu essen.“
Ihren Bauernhof im Twistringer Ortsteil Binghausen bewirtschaftet Familie Wiese seit vielen Generationen. Sie erntet auf ihren Feldern verschiedene Gemüsesorten, hält Schweine und hat sich auf Legehennenhaltung spezialisiert. Im Hofladen bietet Rosi Wiese unter anderem selbstgemachte Marmelade, Brot, Honig, Wurst und Liköre zum Verkauf an.
Mittags treffen sich die Wieses auf ihrem Hof in einer der beiden Küchen: Albert Wiese, seine Frau Rosi und seine Eltern, die inzwischen beide über 90 sind. So ist es Tradition. „Wir beten vor und nach dem Essen, und derjenige, in dessen Küche wir sitzen, spricht das Tischgebet“, sagt Wiese. Am Wochenende, wenn die Enkelkinder dabei sind, kommt ein Gebetswürfel zum Einsatz.
Gemeinsame Mahlzeiten sind für den Landwirt ein Stück Lebensqualität und „mehr wert als das Sattwerden“. Schon in der Kindheit habe er gelernt, das, was auf den Tisch kommt, zu schätzen. „Wir kochen auch heute immer noch frisch und kaufen keinen fertigen Kram.“ Gäste staunen manchmal, welch schmackhafte und kostengünstige Mahlzeiten sich aus einfachen Zutaten zubereiten lassen.
In der amerikanischen Zeichentrickserie „Die Simpsons“ betet Bart Simpson: „Lieber Gott, wir danken dir für gar nichts; wir haben alles selbst bezahlt.“ Was so humorvoll daherkommt, verfehlt aber, worum es beim Tischgebet wirklich geht – und das gilt auch für das gern gesprochene „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb, guten Appetit“. Es geht um Dankbarkeit für das Essen, um Dankbarkeit für die Menschen, die es zubereiten. Und auch darum, Gott zu danken für das große Ganze, findet Albert Wiese.
Man haut keinen in die Pfanne, mit dem man vorher gebetet hat.
Seinen Ursprung hat das christliche Tischgebet im jüdischen Brauch, vor und nach einer Mahlzeit einen Dank oder Lobpreis auf Gott als Schöpfer aller Erdengaben zu sprechen. So handhabte es Jesus auch beim Letzten Abendmahl: „Er nahm das Brot und sagte Dank, brach es und reichte es seinen Jüngern …“
Allerdings ging der Charakter des Dankes nach und nach verloren. Stattdessen rückte die Bitte an Gott, die Gaben zu segnen, in den Mittelpunkt. Auch die Form des Gebets veränderte sich: Man glich das Tischgebet durch Psalmverse, Kyrierufe und Orationen immer mehr dem Stundengebet an. Und schließlich wurde diese komplexe Form des Tischgebetes selbst zu einem Bestandteil des vorkonziliaren Stundenbuchs.
Im Familienleben konnte sich dieser komplizierte Gebetsritus allerdings nie durchsetzen. Stattdessen beschränkte man sich am häuslichen Tisch auf das Vaterunser oder andere bekannte Volksgebete. Was und wie wir beten, ist am Ende eine Typfrage. Dafür gibt es einen großen Gebetsschatz – neben den bewährten auch viele neue Formen des Tischgebets. Beliebt sind auch Holzwürfel, Kerzenständer oder Kalenderblätter mit Gebetstexten. Das Zentrum jeder Eucharistiefeier bildet übrigens immer ein Tischgebet – das eucharistische Hochgebet.
Durch Beten, sagt Albert Wiese, werde das Essen nicht besser oder schlechter, aber es wirke sich auf das Miteinander aus. „Man haut keinen in die Pfanne, mit dem man vorher gebetet hat.“ Wenn Wiese unterwegs ist, verpasst er das gemeinsame Mittagessen. „Da sitzt man dann irgendwo allein, isst, wird zwar satt, aber es fehlt was“, sagt er.
Essen ist kein Recht, das uns zusteht und längst auch keine Privatsache mehr, sondern eine Frage der Ethik und Verantwortung der Welt und den Mitmenschen gegenüber. Genau da leistet das Tischgebet einen wertvollen Beitrag: Es befreit aus der Ich-Bezogenheit und macht klar, dass andere Menschen für unser Essen arbeiten. Für Albert Wiese weist das Gebet auch auf einen Gott hin, „der uns die Erde anvertraut hat“.