Studie zu Taten gegen sexuelle Selbstbestimmung im Bistum Mainz
Wie Bischöfe und auch Pfarrgemeinden versagt haben
Bis in die jüngste Zeit hat es im Bistum Mainz Versagen im Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt gegeben. Das ist ein Ergebnis der unabhängigen Studie zu "Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung seit 1945 im Verantwortungsbereich des Bistums Mainz", die heute in Mainz von Rechtsanwalt Ulrich Weber und Co-Autor Johannes Baumeister vorgestellt wurde. Harte Kritik übte Weber an Bischof Karl Lehmann. Von Ruth Lehnen
Zwar habe es bei Bischof Lehmann von seiner Weihe zum Bischof 1983 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt 2016 beim Thema Missbrauch eine Entwicklung hin zum "Eingestehen und Bewältigen" gegeben. Dennoch habe er den Umgang mit Missbrauchsfällen nie als Chefsache angesehen. Zwischen "öffentlich-medialem Auftreten" und persönlichen Einstellungen und Handlungen sei ein "erheblicher Gegensatz" zu erkennen, so die Gutachter: "Seinen mit eigenen Worten formulierten Anspruch für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche und im Bistum Mainz hat er selbst zu keiner Zeit erfüllt."
Seit 1945: 181 Beschuldigte und 401 Betroffene
Für die Zeit seit 1945 wurden 181 Beschuldigte und 401 Betroffene ermittelt. Diese Zahlen beruhen auf Akten- und Archivmaterial sowie auf 246 persönlichen Gesprächen und Korrespondenzen mit Betroffenen, Wissensträgern, Verantwortlichen und Beschuldigten. Die zunächst höheren Zahlen von 392 Beschuldigten und 657 Betroffenen wurden danach geprüft, ob die Verantwortung für den Fall ins Bistum Mainz fiel, ob es um den Tatbestand sexualisierter Gewalt ging und ob die Meldungen plausibel nachvollziehbar waren.
181 Beschuldigte und 401 Betroffene: Die Studie mit dem Titel "Erfahren, Verstehen, Vorsorgen" (EVV) fragt danach: "Was ist geschehen?", "Wie konnte es geschehen" und "Wie wurde mit dem Geschehenen umgegangen?"
48 Fälle von Versagen – unverantwortlichem Verhalten der Personalverantwortlichen
In 48 Fällen wurde das Versagen der Personalverantwortlichen festgestellt, als höchste Ausprägung eines Fehlverhaltens, als Tabubruch von Verantwortlichen. Die Zeit von Bischof Albert Stohr (Bischof von 1935 bis 1961) ab 1945 sei durch "Ermahnen und Versetzen" geprägt gewesen. Die Vermeidung von Skandalen galt als oberstes Ziel. Unter Bischof Hermann Volk (1962 bis 1982, ab 1973 Kardinal) habe "Verharmlosen und Verschweigen" im Mittelpunkt gestanden.
In Hermann Volks Bischofszeit kam es zu einem Drittel aller Vorfälle, von denen die Studie Kenntnis gibt. Während Beschuldigte Solidarität und Hilfsbereitschaft erfuhren, habe es keinen Blick für das Leid Betroffener gegeben. Bischof Karl Lehmann (Bischof von 1983 bis 2016; Kardinal ab 2001; von 1987 bis 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz) habe zwar eine Entwicklung gezeigt im Hinblick auf das Thema sexueller Missbrauch, aber die Verfasser der Studie zeichnen ein Bild von einem Verantwortlichen, der sich nicht direkt involviert sah, sich zu Maßnahmen vor allem durch eine kritische Öffentlichkeit drängen ließ und noch bis 2016 den Umgang mit Missbrauch nie als "Chefsache" ansah.
Bischof Peter Kohlgraf: Lernen und Aufarbeiten
Der amtierende Bischof Peter Kohlgraf (seit 2017) hingegen habe das Thema zur Chefsache gemacht, ihm wird Lernbereitschaft und der Wille zur Aufarbeitung bescheinigt. Hierzu gehört auch, dass das Bistum Mainz die Studie "EVV" in Auftrag gegeben hat, für die "hohe sechsstellige Summe", die sie gekostet hat, aufkommt, sowie sich sehr kooperationsbereit gezeigt hat. Weber bescheinigt dem Bistum im Jahr 2023 "den Willen zu vollständiger Transparenz". (https://www.kirchenzeitung.de/es-darf-keine-unantastbaren-denkm%C3%A4ler-mehr-geben)
Nur 21 Prozent der Betroffenen haben Antrag auf "monetäre Anerkennung des Leids" gestellt
Die EVV-Studie macht wiederum deutlich, dass sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche nicht ausschließlich, aber fast ausschließlich – im Fall des Bistums Mainz zu 96 Prozent – von Männern ausgeht. 118 der Beschuldigten sind Kleriker, 63 Laien. Die Betroffenen sind zu 59 Prozent männlich und zu 41 Prozent weiblich. Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind nicht ans Alter gebunden: Die Altersspanne der Betroffenen liegt zwischen 3 und 62 Jahren. Die Hälfte der Betroffenen wurde Opfer einer schweren oder besonders schweren Straftat. Wer glaubt, dass das Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche nach einer Art "Schlusstrich" verlange, wird von der Studie eines Besseren belehrt: Jede vierte Meldung eines solchen Übergriffs erfolgt erst nach mehr als 30 Jahren und, noch schwerwiegender: "Je schwerer der Tatbestand, desto später erfolgt die Meldung." Auch die Meinung, mit der Zahlung von Geldern im Zuge der "Anerkennung erlittenen Leids" sei das Thema Missbrauch in der Kirche schon weitgehend aufgearbeitet, widerlegen Ulrich Weber und Johannes Baumeister: "Nur 21 Prozent der Betroffenen haben einen Antrag auf monetäre Anerkennung des erlittenen Leids gestellt."
Die Rolle der Pfarrgemeinden
Kritisch setzt sich die EVV-Studie mit der Rolle der Pfarrgemeinden auseinander. Obwohl 61 Prozent aller Vorfälle im Umfeld der Pfarrgemeinden stattfanden, hätten Pfarrgemeinden "durch Solidarisierung mit den Beschuldigten und Diskreditierung der Betroffenen Aufklärung erschwert und weitere Vorfälle ermöglicht". An einer Umfrage in den Pfarrgemeinden, die noch weitere Erkenntnisse bringen sollte, haben sich nur 40 Prozent der Pfarreien und 20 Prozent der Pfarrverbände und Pfarrgruppen beteiligt. Noch immer sei vielen Menschen die zerstörerische Wirkung von Missbrauchserfahrungen auf nahezu alle Lebensbereiche kaum bewusst. Siehe dazu hier: https://www.kirchenzeitung.de/Bosse-Interview
Was fehlt, ist spirituelle Aufarbeitung
Die Studie kommt zum Schluss, dass der "bisherige Fokus auf standardisierte Verfahren für Anerkennung und Therapiehilfe" nicht ausreichend ist. Es müsse Hilfe bei der spirituellen Aufarbeitung der Missbrauchserfahrungen, eine Weiterentwicklung der Hilfsangebote sowie das Angebot einer "Lebensbegleitung" geben. Bisher würden Betroffene als "Beteiligte eines Verfahrens" betrachtet, Betroffene müssten aber als Person mit individuellen Erfahrungen und Bedürfnissen gesehen werden.
Eine qualitative theologische Aufarbeitung vermissen auch Betroffene aus der Aufarbeitungskommission des Bistums Mainz, wie sie etwa Michael Belzer in „Glaube und Leben“ (https://www.kirchenzeitung.de/was-geschieht-ist-ein-schlag-ins-gesicht) gefordert hat. Der Frage nach der Wiedergutmachung sollte ein Dialog- und Versöhnungsprozess vorausgehen, heißt es von Seiten der Betroffenen. Einen Betroffenenbeirat gibt es im Bistum Mainz derzeit nicht. Nach nur einem Jahr war im vergangenen September ein Konstrukt gescheitert, das die Betroffenen aus den Bistümern Mainz, Limburg und Fulda hatte zusammenführen sollen (https://www.kirchenzeitung.de/trennung-nach-einem-jahr).
Die EVV-Studie sei „absolut notwendig, strukturiert und gewissenhaft“, heißt es von Betroffenenseite: „Diese Studie brauchen wir.“ Zudem wird die aktuelle Präventionsarbeit sehr gelobt: „Da ist das Bistum sehr gut aufgestellt.“
Die Betroffenen fürchten allerdings, dass die Vorstellung der EVV-Studie nur eine kurze Welle der Aufmerksamkeit erzeugt. Ähnlich hat sich Stephanie Rieth, die zuständige Verantwortliche im Bistum Mainz (Bevollmächtigte des Generalvikars Udo Markus Bentz) in einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) geäußert: „Die Vorstellung von Missbrauchsstudien in den Bistümern folgt oft dem gleichen Schema: Ob München, Köln, Hildesheim, Essen oder Trier: Nach dem berechtigten öffentlichen Aufschrei über die erschütternden Missbrauchstaten ebbt die Aufmerksamkeit meist zwei Wochen später wieder ab. ... Ich hoffe, dass aus der Mainzer EVV-Studie wirkliche Konsequenzen folgen und die systemischen Ursachen des Missbrauchs angegangen werden.“
Da das Bistum bis Freitag keine Kenntnis über die Ergebnisse der mehr als 1000 Seiten umfassenden Studie hatte, gibt es erst eine erste kurze Stellungnahme von Bischof Kohlgraf dazu. (https://bistummainz.de/organisation/gegen-sexualisierte-gewalt/aktuell/nachrichten/artikel/Erste-Reaktion-von-Bischof-Kohlgraf-auf-Veroeffentlichung-der-EVV-Studie/#) Das Bistum plant eine Pressekonferenz am nächsten Mittwoch. Bischof Peter Kohlgraf, Generalvikar und Weihbischof Udo Markus Bentz, Stephanie Rieth und die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Ursula Groden-Kranich, sowie weitere Mitglieder der Aufarbeitungskommission des Bistums Mainz waren aber bei der Vorstellung der Studie anwesend.
Von Ruth Lehnen
Hier zur Studie im Download:
https://uw-recht.org/
Hinweis: Der Artikel wurde aktualisiert.