Wo alle anderen rausrennen

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Wo braucht man heute noch Kirche? Die meisten sozialen Dienste gehen auch ohne sie. Anders ist es, wenn Menschen nach einem Unglück begleitet werden müssen. Dann sind Notfallseelsorger gefragt, wie Diakon Andreas Petrausch

Diakon Andreas Petrausch
Auch mit neuen Aufträgen bleibt Diakon Andreas Petrausch seiner seelsorglichen Passion treu: der Notfallseelsorge.  Foto: Andreas Hüser

Die letzte Nachricht vorweg: Andreas Petrausch wird Notfallseelsorger bleiben. „Wenn etwas wirklich Großes passiert, hält mich sowieso nichts.“ Der Diakon aus Bergedorf ist seit einigen Tagen zwar nicht mehr Diözesanbeauftragter für die Notfallseelsorge. Aber er gehört weiterhin zum Kreis von Seelsorgern, die bei plötzlichen Todesfällen, bei Unglücken oder Anschlägen zum Krisenort gerufen werden. 

Es sind zunächst nur die ersten Schockmomente, in denen Notfallseelsorger in Aktion treten. Sie können kein Unglück rückgängig machen. Sie können noch nicht einmal viel sagen. „Trotzdem sind das Situationen, in denen alle anderen Helfer nicht mehr weiterkommen“, sagt Andreas Petrausch. „Weder Polizei noch Rettungssanitäter noch Psychologen.“ Die Situationen, das ist der Moment, wo Menschen „der Boden unter den Füßen weggezogen ist“. „Wenn ein naher Angehöriger plötzlich stirbt, muss ein naher Angehöriger nicht nur das Leid dieses Verlustes verkraften. Es brechen oft auch Lebensperspektiven zusammen.“ 

Selbst bei dem alltäglichen Fall eines plötzlichen Todes sind die Betroffenen nicht selten hilflos, schildert der Diakon. Und ihnen beizustehen, erfordert mehr als guten Willen. „Sie können einen Menschen in der Akutsituation nicht fragen: Wie geht’s dir denn? Denn der befindet sich gewissermaßen im freien Fall, er ist bei seinen eigenen Emotionen noch gar nicht angekommen.“ Allein die äußeren Umstände wirken oft destabilisierend. 

Ein einfaches Beispiel: „Der Mann ist nach einem Herzinfarkt gestorben. Die Frau sitzt in der Küche. Notarzt, Rettungssanitäter, andere Hilfskräfte, etwa sieben Personen, haben in der Wohnung routinemäßig ihre Arbeit gemacht. Sie haben sich in der Privatsphäre der Familie nicht wie Gäste bewegt, sondern haben bestimmt, was geschah. Der Notarzt sagt schließlich: Wir können nichts mehr tun. Dann sind alle wieder weg, weil sie zum nächsten Einsatz müssen. Die Frau ist allein mit dem Toten.“ 

Die Witwe in diesem Moment nicht allein zu lassen, das ist der Job von Seelsorgern wie Andreas Petrausch. „Es ist ein Moment der Hilflosigkeit. Auch für mich. Auch ich kann nichts tun. Aus dieser Situation der Hilflosigkeit würde jeder normale Mensch hinausgehen. Da bleiben, wenn alle ’rausrennen, das ist eine der schwierigsten Aufgaben.“ 

Es wäre illusorisch, in einem solchen Augenblick von der Güte Gottes zu reden oder vom Glauben an die Auferstehung. Dieser Glaube hilft dann eher dem Seelsorger selber. „Ich weiß, ich stehe in meiner Aufgabe nicht allein da. Gott ist bei mir und stärkt mich so weit, dass ich diese Last aushalten kann. Und es ging nie darüber hinaus“, sagt der Diakon. 

Dabei bleiben, das bedeutet: Nicht sehr viel reden. Das Schweigen aushalten. Der Seelsorger steht dann für die Zusage Gottes, den Menschen auch in der größten Not nicht allein zu lassen. „In solchen Situationen bin ich als Seelsorger eine Kirche zum Anfassen. Für Menschen konkret erlebbar, die eine Kirche selten von innen sehen und sich mit ihrem Glauben an Gott schwertun.“ 

 Seit zwölf Jahren versieht der Hamburger diesen Dienst. Seit er angefangen hat, habe sich viel verändert. Vor allem in den fünf Jahren, da Andreas Petrausch als katholischer Vertreter im vierköpfigen Leitungsteam der Hamburger Notfallseelsorge tätig war, habe sich – auch aufgrund der Terrorgefahr – ein professionelles, gut organisiertes und vernetztes System entwickelt. „Heute gehört der Einsatz von Notfallseelsorgern zum Standard in Krisenlagen. Alle, die dort tätig sind, sind gut ausgebildet. Die Einsatzleiter von Feuerwehr und Polizei wissen, wen sie ansprechen müssen.“ Und auch wenn es nur ein Nebeneffekt ist: In diesem Dienst zeige sich, dass es ohne Kirche nicht geht. Dabei arbeitet die Notfallseelsorge ökumenisch eng zusammen. Auch die 80-stündige Ausbildung geschieht gemeinsam. So hat Petrausch zuletzt über 100 evangelische Pastoren und Pastorinnen mit ausgebildet und im Einsatz begleitet. Da entwickelt sich Verständnis, da bildet sich Vertrauen, da geschieht praktische Ökumene.

Andreas Petrausch bleibt Notfallseelsorger, auch wenn er aus seiner Leitungstätigkeit verabschiedet wurde. Hauptberuflich hat er zwei andere Aufgaben im Erzbistum übernommen. Der 57-Jährige ist jetzt Flüchtlingsseelsorger bei der Caritas und in der Härtefallberatung von Flüchtlingen und Asylbewerbern tätig. Ferner ist er Ansprechpartner für Geistliche und andere pastorale Mitarbeiter in Krisensituation. Auch in diesen Aufgaben wird er die Fähigkeit eines guten Krisenbegleiters brauchen: Dableiben, wenn alle anderen gehen.

Text u. Foto: Andreas Hüser