Extremismus bei jungen Menschen

"Wir sind nicht hilflos gegenüber diesem Phänomen"

Image
Islamisten demonstrieren in Hamburg
Nachweis

Foto: picture alliance/ABB

Caption

Bei einer Demonstration in Hamburg forderten Islamisten ein Kalifat. Foto: picture alliance/ABB

Mehr politische Bildung, mehr islamischer Religionsunterricht an Schulen in Niedersachsen: Dafür spricht sich der Osnabrücker Islam- und Politikwissenschaftler Michael Kiefer aus. Denn das macht auch immun gegen Islamismus. Kiefer entwickelt zudem Präventionsprojekte gegen Extremismus in jeglicher Form.

Islamisten bekundeten bei Demonstrationen in Hamburg Sympathien für ein Kalifat. Das sorgte bundesweit für Empörung. Auch bei Ihnen?

Ich beobachte die Veranstalter, die extremistische Gruppierung Muslim Interaktiv, seit vier Jahren, insofern überraschen mich deren Forderungen nicht. Allerdings wirkt der Krieg in Gaza zurzeit wie ein Verstärker. Ein Kalifat fordern auch andere islamistische Organisationen. Was genau sie damit meinen, bleibt unklar – eine Fantasie. Die Kalifate, die es in der islamischen Geschichte gab, wurden immer kontrovers diskutiert. Nie ist es einem Kalifen gelungen, alle Muslime zu einigen. Aber egal, um welches Kalifat es geht: Es ist nicht kompatibel mit unserer Demokratie, denn im Kalifat ist Gott der alleinige Souverän, bei uns bekanntlich das Volk.  

Ist die Angst vor einem reaktionären politischen Islam dennoch gerechtfertigt?

Angst müssen wir nicht haben, die Islamisten werden in Deutschland keine Systemveränderung erreichen. Sorgen müssen wir uns aber machen, weil sie die Frustration und den Missmut bezüglich des Gaza-Krieges kanalisieren und einfangen. Möglicherweise leisten sie damit einen Beitrag zur Radikalisierung junger Menschen. Vor allem, weil sie die Opferrolle betonen und aufrufen, sich zu wehren: gegen die Israelis, den Westen, den deutschen Staat.  

Wie ausgeprägt ist der Antisemitismus unter jungen Muslimen?

Eine aktuelle Studie der Universität Konstanz stellt fest, dass der Antisemitismus unter muslimischen Studierenden deutlich höher ist als bei Studierenden anderer Religionsgemeinschaften und religiös nicht Gebundenen. Das hat auch damit zu tun, dass viele Muslime aus Konfliktregionen kommen – was es nicht entschuldigt, aber erklärt. Die Konstanzer Studie zeigt, dass auch unter Christen, die aus Konfliktregionen stammen, etwa aus dem Libanon, die Zustimmung zu antisemitischen Äußerungen hoch ist.

Antisemitismus ist nicht exklusiv muslimisch ...

... aber dennoch ein Problem. Denn genau diese Leute werden von Organisationen wie Muslim Interaktiv angesprochen. Sie verstärken Unzufriedenheit und Unsicherheit noch, indem sie den Opferdiskurs führen: „Wir Muslime gehören nicht dazu, wir sind benachteiligt. Kommt zu uns …“ Ein solches Opferdenken und Schwarz-weiß-Malerei betreiben auch Rechtsextremisten.

Eine Umfrage des Kriminologischen Forschungsinstitutes in Hannover unter rund 300 muslimischen Jugendlichen ergab, dass einem Fünftel von ihnen beispielsweise die Regeln des Koran wichtiger sind als das deutsche Grundgesetz. Ist das bedenklich?

Diese Ergebnisse sollten nicht dramatisiert werden. Problematisch wird es aber, wenn die Sorgen junger Muslime von Extremisten instrumentalisiert werden und das Ganze zu Gewalt führt.

Wie steuert denn die muslimische Community selbst dagegen?

Vor kurzem war ich zu einem Fachtag der DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V., Anm. d. Red.) in Köln eingeladen. Sie sieht das Antisemitismusproblem durchaus als eine Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, und hat zum Beispiel eine Gedenkstättenfahrt für ihre Religionsbediensteten nach Auschwitz angeboten. Ganz wichtig, denn die Geschichte des Holocaust ist für viele Zuwanderer weit weg, sie verstehen unser besonderes Verhältnis zu Israel nicht, die gesellschaftliche Selbstverpflichtung als eine Konsequenz daraus. Im Dialog mit den jungen Leuten sind aber auch die Schulen gefordert zu überlegen: Wie lassen sich die Lehrerausbildung, der Religions- und Politikunterricht verbessern? Wie kann der Nahostkonflikt berücksichtigt werden? Und das tun sie ja auch schon.

Islamexperte Michael Kiefer
Michael Kiefer, Professor am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. Foto: Uni Osnabrück/Elena Scholz

Bildung spielt offensichtlich eine große Rolle. Vor gut zehn Jahren hat Niedersachsen als eines der ersten Bundesländer regulären islamischen Religionsunterricht im Sinne der Verfassungsvorgaben eingeführt. Wie ist da der Stand der Dinge?

Das Angebot bleibt leider deutlich hinter den Erwartungen zurück. Es gibt bisher nur wenige Schulen, die diesen Unterricht anbieten, selbst dort, wo viele Muslime leben, in Hannover oder Braunschweig. Die Lehramtsabsolventen der Universität Osnabrück wandern deshalb zum Teil schon nach Nordrhein-Westfalen ab, wo die Situation deutlich besser ist.

Was kann der islamische Religionsunterricht leisten?

Er ist allein schon deshalb sinnvoll, weil er zur Mündigkeit der jungen gläubigen Menschen beiträgt. Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich mit ihrer eigenen Religiosität und den schriftlichen Quellen kritisch und reflektiert auseinanderzusetzen. Das immunisiert auch gegen Islamismus. Man hat festgestellt, dass junge Menschen, die als Straftäter im islamistischen Kontext in Erscheinung treten, eine eher geringe religiöse Bildung haben.

Welche Erfahrungen machen Sie persönlich in der Präventionsarbeit?

Ich habe in den vergangenen Jahren ein schulisches Clearing-Verfahren mitentwickelt für Schülerinnen und Schüler, die Gefahr liefen, sich zu radikalisieren. Wir arbeiteten auch mit sehr schwierigen Jugendlichen. Oft bleibt es ja nicht bei rechtsextremen oder islamistischen Äußerungen, sondern es kommt zu Gewalt und Sachbeschädigung – was meistens zu einem Schulverweis führt. Genau das wollen wir vermeiden. Wenn ein 17-Jähriger von der Schule fliegt und keinen Abschluss macht, rutscht er möglicherweise in ein Milieu ab, in dem die Radikalisierung ungehindert weiterläuft. Wir können dann keinen Einfluss mehr nehmen. 

Wie erfolgreich ist dieses Clearing-Verfahren?

Es funktioniert gut. Angedockt an die Kriseninterventionsteams in den Schulen, können schwierige Fälle gemeinsam bearbeitet werden. Die Testphase in Nordrhein-Westfalen lief vier Jahre. Bayern will das Konzept jetzt flächendeckend übernehmen.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

An einem Berufskolleg im Raum Düsseldorf gab es einen 18-jährigen Schüler, der einer Neonazi-Organisation angehörte. Er provozierte ständig, es kam zu Schlägereien mit Mitschülern, zu Schachbeschädigung. Normalerweise ein klarer Fall für einen Schulverweis. Der Schulleiter sprach sich jedoch dagegen aus und verpflichtete den jungen Mann, mit der Schulsozialarbeit zu kooperieren, um weitere Vorfälle zu verhindern. Der Schüler war einverstanden, er wollte unbedingt seinen Bildungsabschluss haben. Und es hat geklappt. Er absolvierte danach ein soziales Jahr und distanzierte sich sogar von der rechtsextremen Szene.

Wäre das nicht auch ein Modell für Schulen in Niedersachsen?

Natürlich. Das Clearing-Verfahren zeigt: Wir sind nicht hilflos gegenüber dem Phänomen Extremismus. Aber es kann nur erfolgreich sein, wenn das gesamte Kollegium die Ziele mitträgt und wenn es genügend Ressourcen in der Schulsozialarbeit gibt. Nordrhein-Westfalen hat einige strukturelle Vorteile gegenüber Niedersachsen. In weit über 20 Städten gibt es zum Beispiel kommunale Büros, die sich mit Radikalisierung an Schulen befassen. Und es gibt in den jeweiligen Bezirksregierungen Fachkräfte für Schulpsychologie. Ich würde mir wünschen, dass Niedersachsen mehr unternimmt in der Extremismus-Prävention – nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Bereich.

Einerseits redet die Politik islamistische Tendenzen klein, aus Sorge, islamfeindlich zu sein, andererseits werden Muslime pauschal mit Extremismus gleichgesetzt. Wie finden wir in Deutschland den richtigen Mittelweg?

Indem wir sachlich diskutieren und nicht unnötig dramatisieren. Eine Demonstration wie in Hamburg ist kein Weltuntergang, sondern eine Aufgabe für den Rechtsstaat. Er muss dafür Sorge tragen, dass unsere Grundrechte nicht infrage gestellt und andere Religionsgemeinschaften abgewertet werden. Und: Wir müssen mit den muslimischen Gemeinschaften weiter im Gespräch bleiben und sie ermutigen, das Problem des Extremismus in den eigenen Reihen angemessen zu bearbeiten. 

Den religiös begründeten Extremismus und andere Formen werden wir vermutlich dennoch nicht ganz los ...

Das stimmt, wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen und haben viele Baustellen gleichzeitig, sodass sich die Unzufriedenheit der Menschen offensichtlich einen Kanal sucht. Das lässt die extremistischen Ränder erstarken. Islamisten und AfD haben übrigens früh erkannt, dass Social-Media-Plattformen wie TikTok ein ideales Feld sind für ihre Propaganda. Ich kann mich durchaus mit dem Gedanken anfreunden, eine Organisation wie Muslim Interaktiv zu verbieten. Andererseits schafft auch ein Verbot das Problem nicht aus der Welt.

Zur Person
Der Islam- und Politikwissenschaftler Michael Kiefer, Jahrgang 1961, hat eine Professur am Institut für Islamische Theologie der Uni Osnabrück mit den Schwerpunkten Soziale Arbeit und Migration, Radikalisierung und Radikalisierungsprävention sowie muslimische Wohlfahrtspflege.

 

Anja Sabel