Anstoß 09/2024
(An)gesehen
Eine andere Facette, des Gesehen-werdens rückte in der letzten Woche bei einer Tagung zu den Kess-Erziehen-Elternkursen in meinen Blick. Im Nachdenken über die „kesse“ Erziehungshaltung (kooperativ, ermutigend, sozial, situationsorientiert) angesichts der zunehmenden Digitalisierung: junge Menschen, die mit aller Kraft versuchen, im Internet gesehen zu werden – und sich dabei möglichst schön und vollkommen darzustellen. Zugleich jagen viele von ihnen vergeblich den geschönten, unerreichbaren Idealen nach, genau so zu sein und genau so viel gesehen zu werden, wie ihre Stars. Die Gefahr einer totalen Entmutigung ist dann nahezu mit Händen zu greifen.
Und dennoch: es ist ein Grundbedürfnis von uns Menschen, gesehen zu werden. Wie gut tut es Kindern, wenn sie sicher sein können, dass ihre Eltern sie im Blick haben, ihnen Ansehen schenken, ihre Bedürfnisse sehen. Erwachsene brauchen das ebenso – nur können sie in der Regel besser damit umgehen, wenn sie sich gerade nicht gesehen fühlen.
Ein drittes Sehen und Angesehen werden begleitet mich gerade in der Fastenzeit wieder. Ein Text von Anthony de Mello: der Blickwechsel zwischen Jesus und Petrus beim Hahnenschrei, darin die Trauer über die Distanzierung des Petrus im Augenblick zuvor und die Trotzdem-Liebe Jesu. Sie führen zu der Einsicht, wohl schon eine gute Beziehung zu Jesus zu haben, bis auf das eine – ihm „in die Augen zu sehen“, sich seinem Blick auszusetzen – und dem, was darin liegt: Liebe, ohne Bedingungen, Liebe, die unsere Ganzheit sieht, und die Schönheit darin.
Die heiligen 40 Tage können eine Ermutigung sein: sich (wieder) liebevoll angesehen zu fühlen und selbst einen solchen Blick auf andere zu üben, der sagen kann: „Ich sehe was, was du nicht siehst – und du bist schön!“