Anstoß 38/2023

Gottesgesichter

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Müde. Lächelnd. Gehetzt. Verträumt. Fröhlich. Genervt. Jung. Alt. Mit Rucksack, Köfferchen, Business-Mappe. In Anzug, Kleid, kurzen Hosen. Blumen in der Hand. Auch eine Bierflasche. Das Notebook unterm Arm. Die Nase im Buch. Das Handy vor den Augen. So habe ich ihn gesehen – oder sie?

Angela Degenhardt
Angela Degenhardt
Gemeindereferentin in St. Jutta Sangerhausen und St. Georg Hettstedt

Eigentlich war es nur ein weiterer von vielen Tagen, an denen Gott weit weg oder mindestens schwer zu finden ist. Auf der Rolltreppe zur U-Bahn kam der im Grunde vertraute Gedanke: Gott ist in jedem Menschen. Ich beschloss „nur für heute“, ihn ganz bewusst in den Gesichtern zu suchen, die mir begegnen. Einfach neugierig zu sein: Lässt sich Gott so entdecken? Würde ich etwas von ihm erfahren, von dem unendlich Großen, gefühlt weit Entfernten, schwer zu Verstehenden, der trotzdem da ist, mich sieht?
Ich habe den Tag über in viele Gesichter geschaut. Manchmal gab es einen Blickkontakt. Ein Gefühl der Verbundenheit und des Staunens stellte sich ein. So viele „Gottesgesichter“, so verschieden und vielfältig. Und so ein Augenblick streift ja nur die Oberfläche. Wie viel größer ist Gott über den Blick in so viele „Spiegel“. Wie erstaunlich nah, dass er mich aus den Augen des Gegenübers anschaut? Wie begrenzt sind wir, Menschen be- und verurteilen zu wollen, die vermeintlich anders sind – und ebenso alle Gottes Ebenbilder?
Eigentlich etwas ganz Alltägliches, trotzdem es bei mir gerade ein Urlaubstag war. Menschen auf der Straße, im Bus, in der Schule, in der Autowerkstatt, im Krankenhaus, in der Kirche. Natürlich begegnet mir Gott in dieser Vielfalt von Menschen und Situationen. Nur werde ich dessen oft nicht gewahr. Das immer zu wollen oder von mir zu erwarten, wäre eine Überforderung. Aber wenigstens ab und an kann der Gedanke an diese Weise der Gottesgegenwart vielleicht eine Spur sein: „Sucht den Herrn, er lässt sich finden, ruft ihn an, er ist nah!“ (Jesaja 55,6) Das ist kein Garantieschein, dass ich es auch merke, aber es ist möglich.

Angela Degenhardt