Anstoß 15/2025

Der Kritiker

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Neben mir in der Oper sitzt ein Kritiker. Er hat sein Notizbuch auf den Knien und schreibt eifrig mit. Als am Ende das Theater tobt, bleibt er entspannt sitzen, klatscht artig ein paar Sekunden und verlässt alsbald das Theater.

Porträt Guido Erbrich
Guido Erbrich
Senderbeauftragter der katholischen Kirche beim Mitteldeutschen Rundfunk

Zwei Tage später lese ich seine Kritik in der Zeitung und staune. Waren wir eigentlich in der gleichen Vorstellung? Da sprangen doch zum Schluss alle auf, applaudierten und schrien vor Begeisterung. Hätten sie vorher seine Kritik gelesen: Wie unbedarft, ja teilweise naiv gespielt und getanzt wurde, wie grottig die Musik, kurz, was alles passierte, weswegen die Vorstellung überhaupt nichts Besonderes war – kein Mensch wäre aufgestanden und hätte gejubelt. Wer hat nun recht: das begeisterte Publikum oder der Kritiker mit seiner jahrelangen Kunsterfahrung?

Beflissen schaut er auf jedes Detail, und wahrscheinlich hat er mit dem, was er schreibt, nicht Unrecht. Aber was nützt das, wenn dadurch das große Ganze aus dem Blick gerät? Ich kann mich vor ein Bild in 20 Zentimeter Abstand stellen und bemerke selbst bei großen Künstlern Stellen, bei denen ich denke: „Das hätte der Künstler aber besser machen können.“ Aber was habe ich eigentlich 20 Zentimeter vor dem Bild zu suchen? Ergibt das noch Sinn?

Ich habe schon viele schöne Aufführungen von Laienorchestern, Schultheatern, Kirchenchören erlebt, die waren alles andere als perfekt. Trotzdem haben sie mich ergriffen, weil Begeisterung rüber kam – von Menschen, die einfach Freude an der Kunst haben. Natürlich muss ein Kritiker hier andere Ansprüche anlegen. Und ich finde es ja gar nicht schlecht, dass es Kritiker gibt, die – um auch mal was Positives zu sagen – versuchen, die Latte hoch zu legen und Vergleiche zu ziehen. Für das Erleben von Kunst ist das allerdings zweitrangig. Denn Perfektion gibt es erst im Himmel.

Guido Erbrich