Krebskranke Frau geht im kirchlichen Hospiz hoffnungsvoll ihre letzten Lebensmeter

„Der grünen Aue entgegen“

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Julia Geßner im Hospiz
Nachweis

Fotos: Stefan Schilde

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Für den Hauskreis ihrer Kirchgemeinde hat Julia Geßner ein „Glücksglas“ gestaltet. Dort hinein kommen die Zettel, auf denen die Mitglieder schreiben, was Glück für sie bedeutet.

Seit Januar wohnt die 60-jährige Julia Geßner im Dresdner Marienhospiz. Hoffnung auf Heilung ihrer schweren Krebserkrankung besteht für sie keine mehr. Wie die Christin ihren Frieden gefunden hat – und worauf sie sich für die Zeit nach dem Tod freut.

Eigentlich hat Julia Geßner mit ihren 60 Jahren noch einiges vorgehabt. Gerade hatte sie gelernt, das Bariton zu spielen. „Das ist eine Art kleine Tuba“, erklärt die Dresdnerin. „Darauf spielen zu lernen, fiel mir so leicht, dass ich im Mai mit dem Posaunenchor Dittersbach zum Posaunentag nach Hamburg mitgefahren wäre.“ Auch tanzt sie für ihr Leben gern: Standard, Latein und irischen Volkstanz. Mit ihrer Gruppe „Irish Feet Dresden“ nahm sie an Meisterschaften teil.Vielleicht wäre sie bald ausgewandert, zusammen mit ihrem Ehemann. Nach Finnland, das sie oft zusammen bereisten. „Mit dem Auto bis an die russische Grenze, von dort mit dem Motorboot über den Saimaa-See auf eine der Inseln. Ohne Strom, ohne fließend Wasser, nur mit den Reichtümern der Natur vor der Haustür. Das war unser Traum“, sagt sie. Bei den letzten vier Reisen war immer ihre ältere Enkelin dabei.

Künftig werden ihr Mann und ihre Enkelin den Trip ohne sie antreten. Denn Julia Geßner ist sterbenskrank. Der Krebs hat ihren Körper zerfressen, so sehr, dass eine Heilung nicht mehr möglich ist. Jeden Tag könnte es für sie so weit sein. Doch Julia Geßner ist verblüffend ruhig.

Frau Geßner
Julia Geßner spielt gern auf der Zungentrommel, die ihr Sohn ihr mitgebracht hat.

„Manche Erkenntnisse hätte ich ohne den Krebs nicht erlangt“

Seit ihre Krankheit immer schlimmer wurde, blickt sie anders auf ihr Leben zurück. „Es mag blöd klingen“, sagt die gelernte Altenpflegerin, die später auf Kauffrau im Gesundheitswesen umsattelte, „aber manche Erkenntnisse hätte ich ohne den Krebs nicht erlangt. Nun denke ich öfter: Was habe ich im Leben nicht alles geschafft?“ Sie ist dankbar für ihre beiden Söhne, ihre Enkel, ihre vielen Freunde und ihre evangelische Kirchgemeinde im Dresdner Vorort Schönfeld-Weißig. „Und für meinen liebevollen Mann. Mit ihm habe ich in letzter Zeit viele Dinge, die offen waren, aufräumen können. Das hat mir gutgetan.“

Seit Ende Januar ist Julia Geßner im katholischen Marienhospiz. Als ihr ein Platz angeboten wurde, sagte sie sofort zu. „In den vergangenen acht Monaten musste mein Mann alles allein stemmen. Es war sehr belastend.“ Hier im Hospiz fühlt sie sich gut aufgehoben. „Die Menschen sind liebevoll, nehmen sich viel Zeit für mich. Wenn ich nachts wach liege, bringen sie mir einen warmen Kakao, bereiten mir ein Fußbad oder verpassen mir eine Rückenmassage.“

Schmerzen hat sie keine. Aber sie muss viel vom Bett aus machen. Sie schmückt Gläser, bastelt bei der Ergotherapie Lampen oder spielt auf der Zungentrommel, die ihr Sohn ihr mitgebracht hat. Neulich hat sie eine Andacht begleitet. „Schwester Aurelia von den Elisabethschwestern hat einen Text gelesen und ich habe dazu meditative Klänge gespielt“, erzählt sie. Demnächst will sie es auf der Querflöte versuchen. „Ich sage mir: einfach mal ausprobieren.“

Aber sie musste auch lernen, auf ihren Körper zu hören. Vor kurzem ist sie gestürzt. Seitdem ist sie in Vollzeitpflege, die Mitarbeiter helfen ihr beim Waschen und Anziehen. „Es war die richtige Entscheidung. Die Kraft und Zeit, die ich dabei spare, kann ich für schöne Dinge nutzen.“ Sie schaut in ihren gut gefüllten Terminkalender. Ihre Familie und Freunde besuchen sie oft. Demnächst kommt auch der Hauskreis ihrer Kirchgemeinde vorbei. Gemeinsam wollen sie erörtern, was Glück bedeutet. Julia Geßner hat ein leeres Marmeladenglas dekoriert. „Da hinein kommen die Zettel, auf die wir schreiben, was Glück für uns heißt.“

Beerdigung ist organisiert
Kuschelhasen für die Kinder liegen bereit

Für die Zeit, wenn sie stirbt, hat Julia Geßner schon alles geregelt. Ihre Familie wird bei ihr sein. „Mein Mann und meine Söhne werden hier abwechselnd auf dem Sofa schlafen.“ Auch wie ihre Beerdigung ablaufen wird, steht fest. „Irgendwo auch schön“ fand sie es, sich mit all dem zu beschäftigen. Für jedes Familienmitglied hat sie ein passendes Trauerbuch gekauft und einen Brief geschrieben. Die Kinder bekommen Kuscheltierhasen. „Damit sie was zum Kuscheln haben, wenn sie nach dem Trauergottesdienst zum Grab laufen“, sagt Julia Geßner.

Von einer Freundin hat sie ein Buch zum Psalm 23 bekommen. Die Verse sind illustriert. Ihr Lieblingsbild: eine grüne Aue, durch die ein Bächlein fließt. So stellt sich Julia Geßner das Leben nach dem Tod vor. „Dort ist Frieden, dort bin ich gesund. Ich liege in der warmen Sonne, die Schmetterlinge setzen sich mir auf die Nase und mir geht’s gut.“ Das Licht, das auf dem Bild zu sehen ist, steht für sie für Gott.

Ihren Weg in die Kirche fand sie, da war sie 28 Jahre alt. „Mein jüngerer Sohn erlitt bei einem Fahrradunfall schwerste Kopfverletzungen. Nachdem er vollständig genesen war, wusste ich: Jetzt lassen wir uns taufen“, erzählt Julia Geßner. Ihre Beziehung zu Gott beschreibt sie als intensiv, ihren Glauben als fest. „Ich habe auch mal Wutsalven losgelassen. Aber ich hinterfrage Gott nicht, nehme alles als gegeben hin. Mein Mann und ich uns haben uns immer getragen gefühlt, von Gott und unserer Gemeinde.“

Sie ist gespannt, ihren Opa und ihren Bruder kennenzulernen, die vor ihrer Geburt starben. „Im Endeffekt freue ich mich auch darauf. Ich bin ein zähes Huhn, aber ich habe schon überlegt, ob aufgeben soll. Doch wenn mein Mann mich ansieht, dann fällt es mir schwer. Obwohl er immer sagt: Du entscheidest, wann du loslässt, und ich werde da sein.“ Vorher möchte sie unbedingt noch mal raus, mit ihm spazieren gehen. „Und wenn es dann wirklich so weit ist“, sagt Julia Geßner, „dann sollen die da unten leben – und bitte nicht gleich nachkommen.“


Zur Sache

Das Marien-Hospiz Dresden gehört zum St. Joseph-Stift Dresden, einer Einrichtung des Elisabeth Vinzenz Verbundes – einer Gemeinschaft katholischer Krankenhäuser, die für Qualität und Zuwendung in Medizin und Pflege stehen. Hier werden schwerstkranke und sterbende Menschen sowie ihre Nahestehenden seit 2020 individuell und bedürfnisorientiert von einem multiprofessionellen Team begleitet.
Hospizarbeit wird getragen durch die Idee einer fürsorglichen Gesellschaft – und ist ohne Spenden nicht denkbar. Mehr über das Marien-Hospiz Dresden und die Möglichkeiten zur Unterstützung erfahren Sie hier: www.marienhospiz-dresden.de

 

Stefan Schilde