Anstoß 05/23
15 Prozent
Vor 20 Jahren war in Rom immer irgendwo sciopero: Streiks waren an der Tagesordnung. Besonders unangenehm war es, wenn bei der Müllabfuhr oder bei der Metro gestreikt wurde.
Heute gehören Streiks auch in Deutschland zum Alltag. Verdi-Chef Frank Wernicke hat die Forderung nach 15 Prozent mehr Lohn bei der Deutschen Post mit dem Hinweis auf Rekordgewinne des Konzerns verteidigt. In den Tarifverhandlungen mit Bund und Kommunen fordert er 10,5 Prozent und verweist auf die hohe Inflation.
Natürlich will Frank Wernicke das Beste für die Beschäftigten herausholen. Trotzdem empfinde ich die Selbstverständlichkeit, mit der solche Forderungen erhoben werden, als anstößig. Kleine und mittelständische Unternehmen können diese Forderungen kaum erfüllen, weil ihre Kunden entsprechende Preissteigerungen nicht mittragen. Außerdem tragen prozentuale Erhöhungen dazu bei, dass die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen immer weiter auseinanderklafft. Auch was der Staat ausgibt, muss erwirtschaftet werden.
Was hat das in einem Anstoß zu suchen? Mir geht ein Wort des Propheten Ezechiel durch den Kopf: „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden“ (Ezechiel 18,2)
Zu den sauren Trauen, die wir gerade aus unterschiedlichen Gründen auf dem Tisch haben, gehören sicher die wachsende Unsicherheit, Zukunftsängste und die hohe Inflation. Wir werden sie gemeinsam essen müssen, sonst bürden wir der nächsten Generation noch höhere Lasten auf.
Sozialer Friede lebt davon, dass wir die Verteilung von Gütern und Lasten als gerecht empfinden. Dafür sind auch Gewerkschaften verantwortlich, wenn sie entscheiden, welche Forderungen angemessen sind.
Natürlich belasten diesen Frieden auch Menschen, die wie die ehemalige RBB-Chefin Patricia Schlesinger kein Gespür für Grenzen nach oben haben. Aber schwarze Schafe dürfen keine Ausrede sein, dass jeder nur noch an sich denkt. Gesellschaft kann man damit nicht bauen.
Lübbenau