Kappenabende des Wittichenauer Faschings 2018
312. Wittichenauer Supervision
Eigentlich lässt sich der blanke Wahnsinn nicht toppen, der beim Wittichenauer Fasching auf die Bühne gezaubert wird. Doch die Kappenabende in diesem Jahr beweisen: Da geht noch was! „Schneewittchen“-Julia feuerte die Szene an.
Beim zweiten Kappenabend der 312. Karnevals-Saison in Wittichenau verzauberte Julia Reischmann, als Schwiegertochter Schneewittchen wieder weit über 1000 Gäste. Nach ihrer Darbietung trat ihr Vater und Redenschreiber, Thomas Michauk (im Außer-Karneval-Leben ist er Küster in der Pfarrkirche) auf die Bühne und sammelte nach seiner Ansprache die Zwergenmützen von den Häuptern des Vierzehner-Rates. | Foto: Raphael Schmidt |
„Der Wittichenauer Fasching braucht jetzt eine handlungsfähige Regierung. Wir haben den Auftrag der Karnevalisten verstanden und sind bestrebt, in den Elsterstrand-Sondierungen schnell ein Regierungsprogramm zu erarbeiten“, mit diesen Worten leitet Hofmarschall Simon Michauk, beim Kappenabend am 27. Januar im mit weit über 1000 Narren gefüllten Saal der Mehrzweck-Halle zur Regierungserklärung von Prinz Thomas, tollkühner Trompeter vom tadellosen Hohen C, über. An der Seite des Prinzen ist mit ihrer Lieblichkeit, Prinzessin Sandra, das Dreigestirn der diesjährigen, der 312. Karneval-Saison komplett. Während der Regierungserklärung des Prinzen ist der Marschall im Volk unterwegs, befragt es nach Wünschen, nimmt Kritiken entgegen. Das ist neu – und wäre möglicherweise ein probates Mittel für hilflos wirkende Regierende im Land.
Einige Tuschs und dreifache „Wittichenau-Helau“ weiter betritt Julia Reischmann die Bühne. Als erste Büttenrednerin – und als neue dazu – kann alsbald die Redner-Tonne abgeräumt werden, denn die agile Frau bespielt nun die Bühne, legt einen fernsehreifen Auftritt hin, überzeugt schauspielerisch ebenso wie als Sängerin, die sich mit der Gitarre und der Band NaUnd begleitet. „Liebe macht blind, das ist ja bekannt, also bin ich ihm ahnungslos hinterher gerannt. Ein Prinz, ein Schloss, pures Glück auf Erden – schlimmer als bei meiner bösen Stiefmutter wird es ja nicht werden“, rezitiert das junge Ding mit pechschwarzem Perücken-Haar. Doch da hatte sie noch nicht die Schwiegermutter auf der Rechnung stehen. Immer wieder befragt sie das in einen weißen Rahmen gefasste Spieglein in der Ecke, das leuchtend blinkt, wenn es Schneewittchen antwortet. Die Stimme des Spiegels gehört Thomas Michauk, dem Vater von Schneewittchen, wie auch des Hofmarschalls.
Ich war so aufgeregt – ich dachte, ich sterbe
„Ich hatte sehr viel Unterstützung; mein Vater hat die Rede geschrieben, Freunde gaben mir ein paar Lied-Tipps. Ich war so aufgeregt, besonders beim ersten Abend – ich dachte, ich sterbe“, sagt Julia Reischmann. Davon ist nichts zu spüren, ganz im Gegenteil: Die Narren werden noch närrischer, applaudieren stehend. Zu diesem „ganz fiesen Thema“, sagt die Schwiegertochter: „Ich mag meine Schwiegermama sehr gerne. Wenn das nicht so wäre, würde ich mich mit diesem Programm nicht auf die Bühne stellen. Das geht eigentlich nur, wenn man sich sehr gut versteht. Außerdem hat sie angefangen, hat schon zwei Reden über die Schwiegertochter und über die Enkel gehalten. Jetzt musste ich einfach kontern! Ich konnte nicht anders!“, sagt Schneewittchen. Und weiter geht das weit über drei Stunden dauernde Programm, das frisch und an aktueller Politik von Kulow orientiert. „In den Fasching sind wir reingewachsen“, sagt Schneewittchen noch, bevor sie davonschwebt.
So ist es auch bei Matthias Popella, der mit seinen zwei Schwestern Claudia und Michaela ein Stück aufführt, in dem er als talentfreier und an Arbeit nicht wirklich interessierter Auszubildender im Wittichenauer Klärwerk negativ auffällt.
Vererbt scheint auch hier das Talent. Der Vater der Drei ist der ehemalige Bürgermeister Udo Popella, dessen Karnevals-Titel und Auszeichnungen hier aus Platzgründen unmöglich aufgezählt werden können.
Pfarrer Roland Elsner ist jedes Jahr beim Kappenabend dabei und sagt, warum: „Fasching ist ein guter Ausgleich für all die Tätigkeiten, Traurigkeiten, die Lasten, die man sonst zu tragen hat. Fasching ist für mich eine uralte Supervision, bei der du mit Menschen zusammenkommen, mit ihnen lachen kannst, wo du über dich selbst ein bisschen schmunzeln kannst oder aufs Korn genommen wirst. Man kann nicht immer traurig sein – man kann nicht immer lustig sein. Es gibt Zeiten, die dich hochschaukeln, andere, die dich runterziehen. Fasching ist ein gesunder Ausgleich zum normalen Leben, das eher nicht so lustig ist. Diese Kappenabende sind darüber hinaus eine gute Gelegenheit, zu erleben, was andere Menschen hier zustande bringen und das anzuerkennen“, sagt er. Fasching ist für ihn „auch Seelsorge. Die Seele wird mir leicht, wenn ich beispielsweise an die Pärchen denke, die ich hier sehe und die ich irgendwie schon mal begleitet habe in ihren Leben. Als Pfarrer, als Seelsorger, als Priester auch bei solchen Veranstaltungen präsent zu sein, ist mir wichtig. Manches, was sich die Leute nicht trauen zu sagen oder zu fragen, das passiert, Jahr für Jahr, hier. Kurz: Fasching tut meiner Seele gut!“, sagt Pfarrer Elsner.
Inzwischen hat das Prinzenpaar gespeist, die Uhr zeigt kurz vor Mitternacht an. Und die Nacht ist noch jung. An Schlafen ist nicht viel zu denken, an diesen tollen Tagen und Nächten. Der Gottesdienstbesuch am Faschings-Sonntag gehört traditionell dazu. Dann zieht das Prinzenpaar, mit Gefolge, in die Pfarrkirche ein und nimmt in der ersten Reihe Platz. „Der Pfarrer oder Kaplan, je nachdem, trägt, mit einem Hut auf dem Kopf, eine gedichtete Predigt, eine Büttenpredigt vor. Das ist vielen wichtig und die Kirche ist voll. Obwohl Faschings-Sonntag ist und alle Feiernden durchaus müde sind“, sagt der Prinz. Ihre Lieblichkeit, die Prinzessin aus dem vorigen Jahr, Anja Kochta, zugehörig zu Prinz Gerold Leitwolf von Mertenschwanz, bestätigt: „Fasching gehört hier zum Leben dazu. Gäbe es keinen Fasching, würde etwas fehlen in Wittichenau“, sagt die emeritierte Prinzessin.
Schlag 0 Uhr ist Fasching wirklich vorbei
Die Verpflichtungen des Prinzenpaares reichen über den Rosenmontags-Umzug bis zur Abschiedsveranstaltung am Faschings-Dienstag-Abend im Schützenhaus. „Die Zeit bis Mitternacht genießen alle ganz bewusst. Und am Aschermittwoch, Schlag Null Uhr, ist dann aber auch wirklich Fasching vorbei“, sagt der Prinz und ergänzt: „Der Zapfhahn wird zugemacht, es gibt nichts mehr zu trinken. Dann gehen die Leute nach Hause. Am Aschermittwoch werden die Fahnen eingeholt, schmücken die Kappenbrüder und Helfer die Stadt wieder ab. Zum Mittagessen gehen sie in die Kneipe; es gibt weder Bier, noch fettes Essen. Zur Stärkung gibt es Rührei“.
Von Raphael Schmidt