Gedenkfeier für Betroffene sexualisierter Gewalt

Abgründe und großes Leid

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Rund 100 Personen haben an der ersten Gedenkfeier für Betroffene von sexualisierter Gewalt im Hildesheimer Dom teilgenommen. Unter den Anwesenden waren neben Betroffenen auch viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bistums – allen voran Bischof Heiner Wilmer.


Norbert Thewes (Mitte) berichtete von seinen eigenen
Missbrauchserfahrungen – vieles von dem, was er
und die anderen Betroffenen zu erzählen hatten, war
schwer zu ertragen.

Im Dom haben die Betroffenen eine Klagemauer aufgebaut. Auf Pappkartons haben sie die Folgen des Missbrauchs geschrieben: Einsamkeit, Ängste, Wut, Alkoholsucht, Glaubenszweifel, Depressionen, Traurigkeit, Albträume, Sexsucht. Die Mauer versperrt symbolisch den Zugang zur Krypta des Domes, wo Bischof Heinrich Maria Janssen seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Ihm selbst werden Missbrauchstaten vorgeworfen (was nicht bewiesen ist), in jedem Fall hat er Missbrauch systematisch vertuscht.

150 Kerzen brennen auf den Stufen zum Altarraum: „Sie brennen für die Betroffenen, die im Bistum Missbrauch erlebt haben“ erklärt Norbert Thewes, Mitglied im Betroffenenrat der norddeutschen Bistümer. „Ich stehe heute hier stellvertretend auch für die Opfer und Überlebenden, die nicht oder noch nicht über die an ihnen begangenen Verbrechen sprechen können.“ Er selbst könne seit zwei Jahren nicht mehr in eine Kirche gehen. „Dass ich hier stehe, habe ich seit vier Wochen geübt.“

„Nicht Fürbitten, sondern Forderungen“

Andere wollen oder können den Schritt, den Norbert Thewes gegangen ist, nicht tun. Vor dem Dom steht Jens Windel, Sprecher der Betroffeneninitiative im Bistum Hildesheim. Gemeinsam mit weiteren, alle vom gleichen Priester missbrauchten Betroffenen, kritisiert er den Rahmen der Veranstaltung. Für viele Missbrauchsbetroffene sei der Weg in die Kirche unmöglich. Es gehe auch nicht „um Fürbitte, sondern um Forderungen“, sagt er. Und eine anschließende Begegnung bei Häppchen und Getränken sei der falsche Weg.

Wenige Tage zuvor hatte er in der „Hildesheimer Allgemeinen“ kritisiert, dass die Aufarbeitung des Missbrauchs nur schleppend vorankomme. 2018 habe die sogenannte MHG-Studie belegt, dass es in Deutschland 3677 Betroffene gebe. „Vier Jahre später konnte das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz keine aktuelle Zahl nennen“.

Der Bischof kommt in Zivilkleidung

Auch im Bistum Hildesheim sei die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren sicher gestiegen, mutmaßt Windel, aber die Zahlen würden nicht veröffentlicht. Mitte letzten Jahres hatte Bischof Heiner Wilmer angekündigt, den Umgang des Bistums mit Missbrauchstaten auch für die Amtszeit der Bischöfe Josef Homeyer, Norbert Trelle und seine eigene auszuweiten. Bis heute ist die Studie nicht in Auftrag gegeben. „Das hätte schneller gehen können“, meint Windel. Immerhin habe ihm Generalvikar Martin Wilk zugesagt, dass das Projekt nun bald umgesetzt werde.

Im Dom selbst startet derweil die Gedenkfeier. Bischof Heiner Wilmer tritt in Zivilkleidung vor die Teilnehmer, um bei den Betroffenen nicht durch ein priesterliches Erscheinungsbild negative Erinnerungen zu wecken. Wilmer ist sich bewusst, dass der gewählte Ort nicht unproblematisch ist. „Ich heiße sie hier willkommen im Raum der Kirche. Ich weiß, viele können nicht hier sein, weil sie nie wieder eine Kirche betreten können. Ich bin heute hier, um zuzuhören, um mich dem Thema der sexualisierten Gewalt in unserer Kirche zu stellen, um eine winzige Ahnung zu haben von den Abgründen der Kirche und von den vielen tiefen Verletzungen“, betonte Wilmer.

Dann haben die Betroffenen das Wort, die diese Gedenkfeier zusammen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stabsstelle Prävention, Intervention und Aufarbeitung im Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim vorbereitet haben.

Eindrücklich machen sie im Verlauf der Gedenkfeier ihre Schicksale und die Auswirkungen der sexualisierten Gewalt deutlich. „Es ist und bleibt wichtig, immer wieder hinzuschauen“, sagt Thewes. Er kritisiert auch, dass die finanzielle Unterstützung durch die Kirche nicht ausreiche und es keinen Hilfsfonds oder einen Ombudsmann im Bistum gebe. Thewes benennt den konkreten Fall einer Frau, die nach Bekanntwerden ihres Falles zunächst großzügige Hilfe vom Bistum bekommen habe, jetzt aber aufgrund eines längeren Auslandsaufenthaltes vor dem Nichts stehe und vom Bistum allein gelassen werde. Er kritisiert, dass ihr Missbrauch durch einen Priester der Diözese vom Bistum als „Beziehung“ betitelt worden sei und der Täter lediglich in den Ruhestand versetzt wurde – ohne weitere Konsequenzen.

Als er selbst sich mit seiner Missbrauchs-Geschichte an das Bistum gewandt habe, seien seine Erlebnisse nicht als real anerkannt worden, sondern seine Schilderungen zunächst als Folgen einer Therapie abgetan worden. „Was ich dann durchgemacht habe, war eine Höllenqual“, sagt Thewes.

Er spricht einen neu gestalteten Psalm für die „Missbrauchten und Geschundenen“ und übernimmt für ein anderes, kurzfristig erkranktes Missbrauchsopfer auch die Predigt. „Ein Vaterunser können wir hier nicht beten, es ist verbrannt“, sagt er. Und dann berichtet er davon, dass er in der Beichte als Buße für seine Unkeuschheit fünf Vaterunser aufbekommen hat – just von dem Priester, der ihn missbraucht habe.

„Wir stehen im Dom auf Augenhöhe“

Thewes wendet sich gegen den Eindruck, den Betroffenen gehe es vor allem um Geld. „Sie wollen gesehen werden, die Kirche muss auf sie zugehen“ Er begrüßt die gute Zusammenarbeit mit der Stabsstelle, durch die etwas geschaffen wurde, was es sonst in Deutschland noch nicht gebe: „Wir stehen hier im Dom auf einer Stufe, auf Augenhöhe“, sagt Thewes. Für die Zukunft wünscht sich das Mitglied des Betroffenenrates, dass weiterhin an Brücken zueinander gebaut werde: „Bleiben Sie an unserer Seite“, lautet seine Forderung an den Bischof und alle Anwesenden.

„Ich habe zugehört und mir ist aufgegangen, ein wenig von ihrem riesigen Leid, von den Verletzungen, davon wie ihr Leben beeinträchtigt wurde – manchmal gar zerstört“, sagt der Bischof zum Abschluss der Gedenkfeier.  

Anlass für die Gedenkfeier ist die Anregung von Papst Franziskus, rund um das von der Europäischen Union eingeführte Datum „Europäischer Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“ einen Gedenktag für Betroffene von sexualisierter Gewalt zu begehen.

Matthias Bode

 

Betroffene berichten im Internet
Unter dem Motto „Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter“ berichten elf Betroffene aus allen Teilen des Bistums in Sprach-Dateien über ihren Missbrauch und die Folgen der Taten für ihr weiteres Leben. Auch Angehörige von Betroffenen kommen zu Wort. Zu hören unter:
www.praevention.bistum-hildesheim.de/betroffene-berichten