Ökumenischer Verein erprobt Formen gemeinsamen Lebens
Älter werden in Gemeinschaft
Die Pioniere des Leipziger Wohnschrittmacher-Projektes: Edith Heidenreich, Maren-Magdalena Sorger, da Vinci, Konrad Harmansa, Werner und Maria Schneider (von links) nach dem gemeinsamen Morgengebet. | Foto: Dorothee Wanzek |
Maria Schneider war die erste, die von hoher Lebensqualität im Alter, von Alternativen zum Altersheim und christlichem Gemeinschaftsleben zu träumen begann. In ihrem Sozialpädagogik-Studium stieß die evangelische Christin schon in den 90er Jahren auf Senioren-Wohngemeinschaften. Die waren allerdings in der Regel von Fachleuten organisiert, und das passte nicht zu ihrem Bedürfnis, die Fäden ihres Lebens selbst in der Hand zu behalten.
Interessiert las sie das Buch „Grau ist bunt“, in dem der frühere Bremer Bürgermeister Henning Scherff von seinem Wohnprojekt erzählt, das er im Ruhestand mit Freunden gegründet hat. Träume zum Leben zu erwecken, kann langwierig und kompliziert sein, erlebte sie mit den Träumer-Kollegen, die sie im Laufe der Jahre kennenlernte.
Viele Träum-Gemeinschaften zerstreiten sich beim gemeinsamen Hausbau, erfuhr sie. Für das Wohnschrittmacher-Projekt, das im April vergangenen Jahres an den Start ging, kam deshalb von Anfang an nur ein Mietobjekt in Frage. Gute Beziehungen zur Stadtverwaltung und zu einem Wohnungsunternehmen erwiesen sich ebenfalls als unerlässlich. Andernfalls hätten Maria Schneider und die anderen Projekt-Pioniere weder erfahren, in welchem Häuserblock zeitgleich mehrere Wohnungen frei werden noch bekämen sie die Möglichkeit, Gemeinschaftsräume anzumieten – für Verwaltungsfachkräfte passt ein solches Ansinnen einer Senioren-Wohngemeinschaft in keines der vorgegebenen Raster. Etliche Christen, die sich für die Wohnschrittmacher-Idee spontan begeisterten, sind dennoch nicht aufgesprungen – weil die familiäre Situation es nicht erlaubte, der Zeitpunkt ungünstig war, der Umzug nach Leipzig des Arbeitsplatzes wegen nicht möglich war ...
Der Magdeburger Pfarrer Konrad Harmansa war der erste, der in einem hellhörigen DDR-Block im Leipziger Musikviertel eine kleine Wohnung anmietete. Auf verschiedene Etagen des Hochhauses folgten nach und nach Maria Schneider und ihr Ehemann Werner, bisher im Team die einzigen evangelischen Christen unter Katholiken, sowie die Künstlerin Maren-Magdalena Sorger, die ihren Hund da Vinci mitbrachte. Zuletzt gesellte sich die Dessauerin Edith Heidenreich hinzu, mit 75 Jahren bisher die Älteste im Bunde. Als nächstes planen die fünf, einen Gemeinschaftsraum anzumieten, der auch gemeinsame Veranstaltungen mit Gästen ermöglicht.
Jeder der Bewohner musste größere oder kleinere Hürden überwinden, damit der Umzug zu den Wohnschrittmachern möglich wurde. Für Konrad Harmansa bestand die Schwierigkeit darin, dass er sich in Leipzig nicht mehr auf dem Territorium seines angestammten Bistums befindet. Seine Bistumsleitung machte ihm den Wechsel trotzdem möglich und gab ihm eine Arbeitsstelle als Kooperator in der nahe der Bistumsgrenze gelegenen Pfarrei Merseburg.
Wer die Senioren-Wohngemeinschaft besucht, der kann eine erfrischende Mischung aus freudiger Aufbruchs-Stimmung und nüchternem Realitätssinn erleben.
Werner Schneider freut sich über die Gelegenheit, als kleine christliche Gemeinschaft Sauerteig zu sein in einem Wohnblock, der sonst eher von Anonymität geprägt ist. Ins gemeinsame Morgengebet schließt er den kranken Nachbarn mit ein, der in den nächsten Tagen mit einer unklaren Diagnose in die MRT-Röhre muss, das Ehepaar auf der anderen Seite, das sich auf die bevorstehende Urlaubsreise freut und die Frau, die ihm erzählt hat, dass sie gerne gemeinsam mit anderen singen würde – als musikbegeisterter Organisator Leipziger Hausmusik-Veranstaltungen sieht er sogleich die Gelegenheit, über den Gesang die Gemeinschaft im Haus zu fördern. Bereichernd findet er auch das gemeinsame Gebet, zu dem die „Wohnschrittmacher“ einander abwechselnd einladen. „Bei uns singen wir dann aus dem Evangelischen Gesangbuch, wenn der Gastgeber katholisch ist, aus dem Gotteslob – die Vielfalt bereichert“, sagt er. Während Schneiders seit langem in Leipzig verwurzelt sind, spüren die anderen, wie mühsam es ist, im Rentenalter neue Kontakte zu knüpfen. Edith Heidenreich hat schon einige Male daran gezweifelt, ob die Entscheidung richtig war, die Stadt zu verlassen, in der die meisten ihrer Kinder und Freunde leben. Zumal sie wohl nicht gerade die charmantesten Nachbarn erwischt hat. Eine beschwert sich zum Beispiel ständig über ihre zu lauten Schritte, obwohl sie schon nur in Hausschuhen durch die Wohnung schleicht. „Kaufen Sie sich Noppensocken!“ verlangte die ungehaltene Nachbarin jüngst.
„Wir alle haben im Vergleich zu unserer früheren Wohnqualität Einbußen in Kauf genommen“, sagt Maren-Magdalena Sorger. „Aber dafür haben wir die Möglichkeit zu einem neuen, bereichernden Leben in Gemeinschaft gewonnen.“ Wie sich diese Gemeinschaft weiter entwickeln wird, ist ein Abenteuer mit offenem Ausgang. In den Augen der fünf Pioniere ist einiges an Abenteuerlust zu erkennen.
Hintergrund: Was den ökumenischen „Wohnschrittmachern“ wichtig ist
- Die Bewohner des Projektes entwickeln die Formen des Zusammenlebens selbst und überlassen dies nicht Fachleuten für Seniorenarbeit.
- Die Gemeinschaft entwickelt aus den eigenen Stärken gemeinsame Projekte, die auch anderen (zum Beispiel Kindern oder Migranten) zugute kommen.
- In der Regel treten die Bewohner in der zweiten Hälfte der aktiven Berufstätigkeit in die Gemeinschaft ein, spätestens jedoch mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben. Alle unterstützen sich ihren Kräften entsprechend gegenseitig. Wer nur eine zusätzliche Altersversorgung bei nachlassenden Kräften sichern will, ist nicht geeignet für das Projekt.
- Die Altersspanne der Wohngemeinschaft erstreckt sich über zwei Generationen und bleibt offen für neue Mitbewohner, von tatkräftigen und erfahrenen Berufstätigen bis hin zu Menschen, bei denen sich Altersgebrechlichkeit zeigt.
- Das Wohnprojekt praktiziert selbst entwickelte Formen gemeinsamen Lebens auf der Grundlage christlichen Glaubens und orientiert sich dabei an den Hauskirchen der Urgemeinde.
- Die Bewohner leben in eigenen abgeschlossenen Mietwohnungen mit gesonderten Mietverträgen, deren Ausstattung nicht von der Gemeinschaft geregelt wird und die in ihrer Größe bewusst klein gehalten sind. Dies fördert die Entwicklung gemeinsamer Lebensformen.
- Die Größe der ersten Wohngemeinschaft sollte zehn Mitbewohner nicht übersteigen. Kommen mehr Interessenten hinzu, soll eine zweite Wohn-Zelle eröffnet werden.
Postadresse: c/o Schneider, Haydnstraße 8/811, 04107 Leipzig
Von Dorothee Wanzek