Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Kirche
Anspruch und Wirklichkeit
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen müsse in der Kirche unbedingt Vorrang haben, betonen Verantwortliche angesichts der anhaltend hohen Zahl von Missbrauchsfällen seit Jahren. An einem ostdeutschen Fall wird deutlich: Die Wirklichkeit hängt solchen Absichtsbekundungen noch hinterher.
„Ich war voller Vertrauen“, erinnert sich Simone Klaus*. Die Zeltfreizeit eines kirchlichen Hauses im Erzbistum Berlin, zu der sie ihren damals zwölfjährigen Sohn Tom* anmeldete, liegt neun Jahre zurück. Sie wirkt bedrückt, wenn sie von den Erinnerungen erzählt, die sie immer wieder einholen. Erst Wochen nach dem Zeltlager vertraute sich Tom seiner Großmutter an: Eines Nachts war er davon wach geworden, dass Freizeitleiter Nils Helms*, im Haus als pädagogischer Mitarbeiter beschäftigt, bei ihm im Zelt hockte und ihn am Rücken streichelte. Er fühlte sich beschämt und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er habe ihn trösten wollen, murmelte der Pädagoge, bevor er das Zelt wieder verließ. Abende zuvor hatte Helms Tom gedrängt, in seiner Privatwohnung zu duschen. Da auch öffentliche Duschen zur Verfügung standen, war der Junge peinlich berührt von dieser Anordnung, kam aber gegen den wortgewandten Erwachsenen nicht an. Unangenehm war ihm auch, dass Helms, während er noch duschte, ins Bad kam und sich erkundigte, ob er bereits seine Zähne geputzt habe.
Eine Frage der Haltung | ||
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Vier Jahre lang konnte ein Mann trotz Verbotes weiter in der katholischen Kirche mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Dafür gibt es mehrere Gründe, neben Nicht-Wahr-Habenwollen, Nachlässigkeiten und Regelverstößen spielen rechtliche Grauzonen
eine Rolle, die ermöglichen, dass Kinder- und Jugendschutz gegenüber Datenschutz und Persönlichkeitsschutz Beschuldigter ins Hintertreffen gerät. Ob solche Gemengelagen Tätern künftig leichtes Spiel machen, hängt von der Haltung aller Beteiligten ab. Entscheidend ist, dass wir alle nicht erst wachsam sind, wenn schwerster Kindsmissbrauch passiert, sondern Alarmzeichen und das eigene Bauchgefühl ernst nehmen – selbstverständlich, ohne Beschuldigte vorzuverurteilen. |
„Mit dem Mann stimmt etwas nicht“, habe Tom der Oma gesagt. Als die ihre Tochter Simone Klaus mit ins Vertrauen zog, klingelte eine innere Alarmglocke: „Hier müssen wir reagieren. So etwas darf Kindern und Jugendlichen in unserer Kirche nicht passieren!“, war ihr klar. Doch zugleich schoss ihr durch den Kopf: „Wenn ich diese Vorwürfe gegen einen so angesehenen Mann unserer Gemeinde erhebe, wird mir niemand glauben. Dann kann ich mich in unserer Kirche nie wieder blicken lassen.“ Mit ihrem Mann rang sie sich durch, ihren Gemeindepfarrer zu unterrichten, der zugleich Vorgesetzter von Nils Helms war. Der Pfarrer nahm die Vorwürfe ernst, reagierte aufgebracht und kündigte Konsequenzen an. Simone Klaus erwartete daraufhin, dass er verantwortliche Stellen im Erzbistum in Kenntnis setzen würde. Die E-Mail, die sie kurze Zeit später erhielt, stammte allerdings nicht von der Bistumsleitung, sondern vom Pfarrer selbst: Er habe Nils Helms persönlich mit den Vorwürfen konfrontiert. Der werde auf sie zukommen und für Klärung sorgen. Darauf wartete sie wochenlang vergebens. Viel später, bei einem Gemeindefest inmitten vieler Mitfeiernder, nuschelte Helms ihr leise zu: „Da ist nichts gewesen. Tom wollte nicht duschen, da musste ich ...“
Mehr als zwei Jahre später erfuhr Simone Klaus, dass die Staatsanwaltschaft unterdessen gegen Nils Helms ermittelt hatte. Sein Name war in der Kundendatei einer kanadischen Internetplattform für Kinder- und Jugendpornographie aufgetaucht. Nachdem die Polizei auf Helms‘ Computer kein einschlägiges Material gefunden hatte, wurden die Ermittlungen eingestellt. Dennoch verbot ihm das Erzbistum Berlin 2015, weiterhin mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. „Nils wird nie wieder mit Kindern arbeiten“, versprach eine Pfarreimitarbeiterin Toms Mutter. Die war erleichtert, zumal sie inzwischen erfahren hatte, dass sich weitere Eltern wegen Grenzüberschreitungen gegenüber ihren Kindern beschwert hatten.
Helms verließ das Erzbistum und schloss sich einer ordensähnlichen Gemeinschaft im Bistum Dresden-Meißen an. Nach einiger Zeit begann er auch hier – diesmal ehrenamtlich –, sich in der Kinder- und Jugendarbeit der Gemeinde zu engagieren, unter anderem bei Religiösen Kinderwochen, in Katechesen und in einem Kinderchor. Vom Bistum erhielt der studierte Theologe die kirchliche Lehrerlaubnis und gab fortan an staatlichen Schulen Religionsunterricht. Grundlage für diese Erlaubnis war sein Erweitertes polizeiliches Führungszeugnis, das keine Einträge ent-hielt, da es in dem Kinder-Pornographieverfahren nicht zu einer Verurteilung gekommen war. Das Erzbistum Berlin hatte die Information über das ausgesprochene Verbot nicht weitergeleitet. Dies hätte gegen die im Arbeitsrecht verankerten Ansprüche des Beschuldigten auf Schutz der Persönlichkeitsrechte und auf Datenschutz widersprochen, erläutert Pressesprecher Stefan Förner.
An seinem neuen Wirkungsort gab es bisher keine Anzeigen von übergriffigem oder eindeutig grenzüberschreitendem Verhalten. Einigen Gemeindemitgliedern fiel allerdings auf, dass die Nähe, die Helms zu Kindern – insbesondere zu zehn- bis zwölfjährigen Jungen – sucht, eher einer Vater-Kind-Beziehung angemessen scheint als dem, was in einer Gemeinde üblich ist. So rangelte er mit den Jungen, kitzelte sie, zog sie zu sich auf den Schoß ...
Schwieriger Fall | ||
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Grundsätzlich kann ich dazu sagen: Ich hätte mir diesen Vorgang (siehe nebenstehender Beitrag) auch anders gewünscht. Er wirft leider – trotz unserer Bemühungen – Fragen auf, wie ernst wir es mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Kirche wirklich nehmen. Von anderer Seite werden wir aber wohl auch gefragt werden, ob denn die Unschuldsvermutung noch gilt.
Der Vorgang wird daher Anlass sein müssen, dass wir unsere Abläufe in solchen Fällen nochmals prüfen und nachschärfen. Ich strebe eine externe Überprüfung der Vorgänge an. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass der konkrete Fall, der in Details nicht ganz zutreffend dargestellt wird, durchaus schwierig ist. Bei einem kirchlichen Angestellten oder einem Geistlichen wäre das Vorgehen sehr viel klarer geregelt und möglich gewesen. |
Auch zu Hansi-Christiane Merkel, die im Bistum Dresden-Meißen Kontaktperson für Hilfesuchende zum Thema Missbrauch ist, gelangten entsprechende Hinweise. Zudem meldete sich bei ihr die Präventionsbeauftragte eines anderen Bistums, die zufällig mit Simone Klaus an einer Kur teilgenommen und dort von ihren Sorgen erfahren hatte.
Sie brachte den Fall in den ständigen Beraterstab ein, der sich im Bistum mit Missbrauchs-Fragen befasst. Er wünsche nicht, dass Nils Helms weiterhin im Auftrag der Kirche mit Kindern und Jugendlichen arbeite, sagte der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers in der Sitzung des Beraterstabs im November vergangenen Jahres.
Weder der Beschuldigte selbst noch sein Pfarrer, seine geistliche Gemeinschaft oder die Schulen, in denen er tätig war, wurden von diesem Verbot informiert. Es war wiederum die Missbrauchs-Kontaktperson Hansi-Christiane Merkel, der auffiel, dass Helms vier Monate, nachdem das Verbot für das Bistum Dresden-Meißen ausgesprochen wurde, all seine haupt- und ehrenamtlichen Tätigkeiten weiter ausübte. Ende Mai bekamen der Pfarrer und der Verantwortliche der Gemeinschaft das Verbot vom Generalvikar schriftlich zugestellt.
Dennoch führte Helms seine Arbeit noch einige Wochen weiter wie gewohnt. Nach Intervention des Dekans und ausgiebigem Schriftwechsel mit anderen Verantwortlichen im Bistum erklärten sich Pfarrer und Gemeinschafts-Verantwortlicher zunächst bereit, das Verbot schrittweise umzusetzen, da sie den Beschuldigten noch dringend für die Religiöse Kinderwoche bräuchten.
In der Bistums-Schulabteilung gab es indes zunächst Bedenken, ob ein Ende der Unterrichtstätigkeit vor Ablauf des Schuljahrs für Unruhe sorgen könnte. Nach weiteren Protesten und nachdem Journalisten auf den Fall aufmerksam geworden waren, wurde das Verbot erst Anfang Juli komplett umgesetzt. Inzwischen war Helms auch die kirchliche Lehrerlaubnis im Bistum Dresden-Meißen entzogen worden.
„Die Vorwürfe sind strafrechtlich doch nicht relevant“, sagt der Pfarrer, der das Verbot wochenlang ignoriert hat. „Wir müssen auch an die Kinder denken, die eine beliebte Bezugsperson verlieren würden und an die berufliche Zukunft unseres Mitbruders.“ Simone Klaus sieht das anders: „Wenn wir bei solchen Vorfällen wegschauen, schaden wir damit unserer Kirche“, ist sie überzeugt.
Wie mit Nils Helms umgegangen wird, bringt sie ins Grübeln. Ob ihr Sohn Tom heute noch in die Kirche ginge, wenn er diese Erlebnisse nicht gehabt hätte?
*Namen geändert
Von Dorothee Wanzek