Gut über den Tod reden
Aus Trauer wird Trost
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Aus Bergen werden Hügel
Hubert Brunotte stellt erst mal Fragen: Wie lange ist der Verstorbene krank gewesen? Haben er und die Familie sich mit dem Tod beschäftigt? Ist der Tod als Freund gekommen oder plötzlich und unerwartet? So tastet er sich heran, um herauszufinden, wie er die Angehörigen am besten begleiten kann. Brunotte (59), Bestatter und Katholik aus Hildesheim, weiß, wie wertvoll das Reden nach dem Tod für die Menschen ist. Also hört er zu. Zwei, drei, vier Stunden lang.
Die Menschen erzählen, was den Verstorbenen ausgemacht hat, was gut und was nicht gut mit ihm war. „Sie sprechen sich alles von der Seele“, sagt Brunotte. Manche sind erleichtert und sagen: „Endlich hat er es geschafft.“ Andere sind geschockt. Und manche verzweifelt – weil ihr Kind gestorben ist. Sie fragen: „Warum wir?“ Brunotte weiß: „Da ist dann jedes Wort zu viel.“ Er schweigt mit den Menschen, hält ihre Hand, nimmt sie in den Arm.
Manchmal zweifeln Angehörige an Gott: „Wie kann er so grausam sein und zulassen, dass meine Tochter beim Autounfall ums Leben gekommen ist? Oder dass mein Sohn ertrunken ist?“ Brunotte fängt dann nicht an zu diskutieren; er weiß, wie unpassend das wäre. Aber er glaubt: Ein Unfall kann selbstverschuldet oder fremdverschuldet sein, Gott jedenfalls hat nichts damit zu tun.
Oft wird Brunotte gefragt, wie er diese Gespräche aushält. Er ist seit 36 Jahren Bestatter, und er sagt: „Wenn ich nicht glauben würde, dass es nach dem Tod noch was gibt, dann könnte ich diesen Beruf nicht ausüben. Dann würde mich diese Hoffnungslosigkeit kaputtmachen.“ Seinen Glauben versucht er den Angehörigen zu vermitteln. Sogar Atheisten finden das gut. Brunotte sagt ihnen, auch wenn sie nicht daran glaubten, sei es doch ein schöner Gedanke, dass man die Verstorbenen wiedersieht: „Da nicken sie dann immer.“
Glaube tröstet, das spürt der Bestatter. Und er merkt: Die, die lieber einen Trauerredner als einen Priester wollen, haben meistens ein Problem mit der Institution Kirche, nicht mit der christlichen Botschaft. Auch sie wollen oft ein Vaterunser bei der Beerdigung beten.
Brunotte muss viele Fragen mit den Angehörigen klären: Wie und wo wollen sie sich vom Verstorbenen verabschieden? Wie soll die Trauerkarte gestaltet werden? Und wie die Trauerfeier? Wo findet der Beerdigungskaffee statt? Welcher Grabstein soll es sein? Er hilft ihnen auch bei den Formalitäten, beim Umgang mit Ämtern und Versicherungen, bei der Todesanzeige in der Zeitung.
Manchmal, erzählt er, sind die Menschen von der Situation überfordert: „Sie stehen vor einem riesengroßen Berg und wissen nicht, wie es weitergehen soll.“ Wie sollen sie ohne ihren Partner klarkommen? Wie schaffen sie den Alltag allein? Reicht ihr Geld jetzt noch? Brunotte versucht sie dann an die Hand zu nehmen und sagt ihnen: „Aus dem großen Berg machen wir viele kleine Hügel – und zusammen schaffen wir es, da rüberzukommen.“
So wächst neue Hoffnung. Manchmal bekommt Brunotte später Briefe, in denen Angehörige sich für die Betreuung bedanken. Dann weiß er, seine Worte haben gewirkt.
Aus Schmerz wird Hoffnung
Wie kann man gut über den Tod reden? Isabell Gerhardt hat darauf schnell eine Antwort. „Indem wir direkt darüber reden. Wir dürfen den Tod nicht umgehen“, sagt sie. Nach einer Ausbildung zur Sterbebegleiterin wurde sie gefragt, ob sie, zusammen mit Agnes Knott, die seit 25 Jahren die Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern in Limburg führt, Mütter und Väter begleiten möchte, die ihr Kind verloren haben – durch eine schwere, lange Krankheit oder ganz plötzlich, durch einen Unfall, durch Herzversagen oder auch Suizid.
„Wenn wir gut über den Tod reden wollen, müssen wir ein ehrliches Gespräch führen. Eines, das alle Emotionen zulässt“, sagt Isabell Gerhardt. Dabei darf geweint und geklagt werden, der Schmerz und die Trauer werden nicht ausgeklammert. „Wir können den Tod nicht umgehen. Die Trauer um ein Kind begleitet die Eltern ein Leben lang. Sie verändert sich, aber sie verschwindet nicht“, sagt Gerhardt, die im Medienbereich arbeitet.
Oft hätten die Eltern, die an den Treffen teilnehmen, aber das Gefühl, genau das sei der Wunsch der Gesellschaft an sie: die Trauer abhaken, zurück zu einem normalen Leben. „Das Umfeld will, dass die Eltern wieder so sind, wie sie früher waren. Aber das geht natürlich nicht“, sagt Gerhardt. Mit dem Tod eines Kindes beginne für Familien eine neue Zeitrechnung. Es gebe ein Vorher und ein Nachher.
Viele der Mütter und Väter, die die Selbsthilfegruppe besuchen, haben die Erfahrung gemacht, ausgegrenzt zu werden. Sie haben erlebt, dass Bekannte die Straßenseite wechseln und Freunde nicht mehr anrufen, um nicht mit der Trauer konfrontiert zu werden. „Die Menschen haben Angst vor dem Thema und sind damit überfordert, über dieses Gefühl zu sprechen“, sagt Isabell Gerhardt. Sie selbst hat kein Kind verloren, hat aber ihren Vater bis zu seinem Tod gepflegt und sich sehr mit dem Thema Tod und Sterben beschäftigt.
Kürzlich erzählte eine Mutter, die seit einem Jahr an den Treffen teilnimmt, wie wütend es sie macht, wenn Menschen sie fragen: „Wie geht es dir?“ Gerhardt berichtet, die Frau habe gesagt: „Was soll ich denn antworten? Mein Kind ist immer noch tot. Wie soll es mir da gehen?“ Für sie ein Beispiel, wie schwierig die Kommunikation zwischen Trauernden und ihrem Umfeld oft ist: „Die Menschen handeln nicht in böser Absicht. Sie sind zu wenig sensibilisiert beziehungsweise überfordert, finden einfach nicht die richtigen Worte.“ Was aber wären die richtigen Worte in dieser Situation? „Was macht der Tod und der Verlust gerade mit dir?“, schlägt sie vor. Das gebe der Frau die Möglichkeit, auch von traurigen Gefühlen zu erzählen.
Erzählen ist das Wichtigste für viele der verwaisten Eltern. In der Selbsthilfegruppe können sie auch Jahre nach dem Tod ihres Kindes von ihm berichten. Sie finden Halt und spenden sich Trost. „All die Gefühle rund um den Tod müssen ausgelebt werden“, sagt Gerhardt. „Der Schmerz, die Wut, manchmal auch die Schuld. Über diese Gefühle müssen wir sprechen. Die dürfen wir nicht einfach nach einer bestimmten Zeit tabuisieren oder vergessen.“ Aber die negativen Gefühle sind nicht das Ende. Isabell Gerhardt sagt: „Gemeinsam versuchen wir, sie umzuleiten. Hoffnung zu geben, neue Perspektiven und Ressourcen zu schaffen und auch auf das Schöne im Leben ihrer Kinder zu schauen.“
Aus Angst wird Dankbarkeit
Barbara Schubert ist es wichtig, die Autonomie ihrer Patientinnen und Patienten zu achten. Deshalb bittet sie sie um Erlaubnis, bevor sie mit ihnen über das Sterben spricht. Sie sagt dann: „Ich habe ein paar Themen, über die, glaube ich, müssen wir beide mal sprechen. Wie wird es mit Ihrer Erkrankung weitergehen? Was haben wir noch für Möglichkeiten, Sie zu behandeln?“ Und: „Kommt Ihnen der Gedanke, dass es sein kann, dass Sie bald sterben werden?“
Die 61-Jährige ist Internistin und Palliativärztin am Krankenhaus St. Joseph-Stift Dresden. Für sie geht es zunächst nicht darum, sterbenskranken Patientinnen und Patienten zu sagen, dass sie bald sterben werden – sondern darum, mit ihnen zu besprechen, wie sie ihnen in ihrer letzten Lebenszeit helfen kann, zum Beispiel mit Schmerzmitteln.
Dabei versucht sie zuerst herauszufinden, ob Sterbenmüssen ein Thema für die Patientin oder den Patienten ist. Manche sagen ihr ganz offen: „Ach, Frau Doktor, seien wir mal ehrlich, lange geht das nicht mehr mit mir.“ Andere klammern sich an die letzte Hoffnung, dass es vielleicht doch noch ein neues Medikament gibt, das ihnen hilft weiterzuleben. Dann nimmt Schubert sich Zeit, um den realistischeren Blick auf die Wirklichkeit mit ihnen auszuhalten – darauf, dass es aus ihrer Sicht kein Medikament mehr geben wird, das Heilung verspricht.
Schubert bemüht sich, mit viel Empathie zu sprechen. „Ich versuche zu vermitteln, dass ich die Hoffnungen, nicht sterben zu müssen, verstehe, und seien sie noch so irreal“, sagt die Ärztin. Und sie ist bereit, die Wut, die Verzweiflung und die Abwehr, die ihr entgegenschlagen, auszuhalten. „Ich habe gelernt, dass es in solchen Momenten nicht um mich geht“, sagt sie. Wer möchte, darf sich an sie anlehnen und wird tröstend umarmt.
Wie die Menschen auf das Thema Sterben reagieren, hängt sehr davon ab, wie gut es ihr gelungen ist, eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Patienten sollen wissen: Die Ärztin meint es gut mit mir, auch wenn sie mir schlimme Dinge sagt. „Ich erlaube den Menschen auch zu sagen: ‚Nein, darüber will ich jetzt nicht reden.‘ Ich versuche, den Patienten immer wieder Zeit zu geben, um sich an die Wahrheit, wie sie nun mal ist, heranzuarbeiten“, sagt Schubert. Manche bedanken sich auch bei ihr dafür, dass sie die Wirklichkeit ihnen gegenüber so offen benannt hat.
Über Tod und Sterben zu sprechen, ist auch für viele Angehörige nicht leicht. Ihre Angst, Sterbenden etwas Falsches oder Verletzendes zu sagen, ist groß. „Ich gebe immer den Rat, dass man zunächst bei sich bleibt, also dass man demjenigen, der stirbt, beschreibt, wie einem selber zumute ist. Wie man sich selbst fühlt, kann man nicht falsch sagen“, sagt Schubert. Zum Beispiel: „Ich bin so traurig, dass es dir nicht gutgeht.“ Denn „dann wissen Sterbende, dass man wahrnimmt, wie es ihr oder ihm geht“, erklärt Schubert.
Die allermeisten Sterbenden seien dankbar für solche Gespräche, ist ihre Erfahrung. Von Angehörigen hört Schubert manchmal Sätze wie diese: „Wir hätten ihm nicht gesagt, wie sehr wir ihn lieben, wenn wir nicht gewusst hätten, dass die Zeit so kurz ist, die ihm bleibt.“
Aus Unsicherheit wird Mut
Tod und Sterben sind weitgehend aus unserer Gesellschaft verdrängt worden“, sagt Grit Beimdiek. „Früher wurde noch zu Hause gestorben, heute soll die Medizin vor allem das Leben verlängern.“ Einerseits. Andererseits sterben Menschen eben doch. „Und ihre Angehörigen erleben dann, dass sie überfordert sind“, sagt sie. Mit den Möglichkeiten der Hightechmedizin, mit den Ängsten und Wünschen der Sterbenden, mit den eigenen Gefühlen. „Leichter wird es“, ist sie sicher, „wenn man darauf vorbereitet ist, wenn man schon einmal über alles nachgedacht hat. Deshalb bieten wir unsere Letzte-Hilfe-Kurse an.“
Und die Nachfrage ist groß. „In diesem Jahr waren die 13 Termine, die wir vom Hospizverein Bramsche angeboten haben, praktisch alle voll belegt“, sagt Beimdiek. Vor allem kämen Menschen zwischen 50 und 70. „Sie erleben, dass ihre Eltern alt werden oder dass Freunde oder Familienmitglieder schwer erkranken, und wollen vorbereitet sein.“ Andere hätten erlebt, dass die letzte Lebensphase von Angehörigen schlecht verlief, und wollen es beim nächsten Mal besser machen. „Sie wollen zum Beispiel nicht wieder aus Unwissenheit einen Krankenwagen rufen und die volle Notfallmedizin auf den Plan rufen, wenn Angehörige aufs Sterben zugehen.“
Die Letzte-Hilfe-Kurse, die der Mediziner Georg Bollig vor 15 Jahren ins Leben rief und die inzwischen vielfach angeboten werden, sind nicht nur dem Namen nach ein Gegenstück zum Erste-Hilfe-Kurs. „Genauso wichtig, wie im Notfall Leben retten zu können, ist es, kompetent beim Sterben zu helfen“, sagt Grit Beimdiek. Wie bei Erste-Hilfe-Kursen geht es dabei nicht um Expertenwissen, sondern um das, was jeder und jede tun kann. „Und dazu gehört als Erstes, sich mit den Fragen von Tod und Sterben auseinanderzusetzen und mit anderen darüber zu reden.“
In der Regel dauert ein solcher Kurs vier Stunden und ist aufgeteilt in vier Teile. „Sterben – wie erkenne ich das“, lautet der erste. Wie kann ich vorsorgen, dass meine Wünsche oder die meiner Angehörigen respektiert werden, ist der zweite. Der dritte: Wie kann ich bei Sterbenden Leiden lindern, sie begleiten. „Sei einfach da, das klingt leichter, als es ist“, sagt Beimdiek. Und schließlich: Wie gelingt das Abschiednehmen? „Wenn eine Geburtstagsfeier misslingt, gibt es im nächsten Jahr eine neue Chance. Wenn eine Beerdigung misslingt, leiden Angehörige manchmal ihr ganzes Leben darunter“, sagt sie.
Manches, was man in den Kursen lernt, ist fachlich – etwa Wissenswertes zu Patientenrechten und zur Auseinandersetzung mit dem Personal in Kliniken. Viele erzählen aber auch von sehr persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen. „Wir teilen schon sehr intime Dinge miteinander“, sagt Beimdiek. Sie ermutigen dadurch, auch in der Familie miteinander zu reden – so weit jeder Einzelne das kann. „Es ist auch okay, wenn jemand sagt: ,Wir kriegen das bei uns nicht hin‘“, sagt sie. Und sie weiß auch, dass jede Situation anders ist. „Sterben kann man nicht üben. Aber wer unseren Kurs mitgemacht hat, fühlt sich ganz bestimmt sicherer und mutiger.“