Der Geist der Verzagtheit

Ausgejubelt?

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Erinnere dich, wie es war, als ich dir die Hände aufgelegt habe, mahnt Paulus. Bei Timotheus ist der erste Schwung, die erste Begeisterung vorüber. Der Geist der Verzagtheit macht sich breit. Ein Phänomen, das wir auch heute kennen.

Foto: kna/Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani
Begeisterte Priester und Jugendliche beim Weltjugendtag
in Krakau. Werden sie ihren Schwung mitnehmen können
in den Alltag? Foto: kna/Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani

Eine junge Liebe, ein neuer Job, ein spannendes Projekt: Am Anfang herrscht Begeisterung pur, man kann alles erreichen. Auch Timotheus mag so gedacht haben, damals, als Paulus ihm die Hände aufgelegt und zu einem seiner wichtigsten Mitarbeiter eingesetzt hat. Eine großartige Herausforderung für den frisch bekehrten Christen. Doch dann wirft sich ihm die Realität in den Weg. Die Tatsache, dass es mit der Mission nicht so läuft wie gedacht, dass die Widerstände größer sind als die Erfolge. Das frustriert. 

Wann genau Paulus den zweite Brief an Timotheus schrieb, ist nicht klar. Sicher aber scheint zu sein: Die Anfangsbegeisterung ist verflogen, der Geist der Verzagtheit breitet sich aus. Ja, es scheint Timotheus sogar ein bisschen peinlich zu sein, für die Gemeinde zu arbeiten – mit Christus am Kreuz und Paulus im Knast.

Am Anfang sind alle ganz beseelt

Reinhard Grave ist Supervisor im Bistum Osnabrück und begleitet hauptamtliche Mitarbeiter aus Kirche und Caritas auf ihrem beruflichen Weg. Die Situation des Timotheus begegnet ihm dabei oft. „Die meisten kirchlichen Mitarbeiter, egal ob Priester oder Laien, sind am Anfang ganz beseelt von ihrer Mission“, sagt er. Den Geist der Kraft und der Liebe, die Paulus in der Lesung beschwört, den kennen sie gut. 

Aber auch das ist wie bei Timotheus: „Bei fast jedem gibt es nach einer Weile den Praxisschock“, so Grave. Die Erkenntnis, dass alles nicht so einfach ist. „Manche erfahren schmerzhaft, dass die Leute in der Kirche trotz der Botschaft der Nächstenliebe so sind wie alle anderen auch“, sagt er. Wie bei Timotheus gibt es die Erfahrung, dass trotz vieler Mühen die Massen nicht strömen, dass Angebote nicht angenommen werden und Projekte scheitern. Christliche Verkündigung ist damals wie heute kein Selbstläufer.

„Und dann gibt es noch etwas“, sagt Reinhard Grave, besonders heute: „Das Entsetzen über den Zustand der Institution Kirche.“ Die Situation, sagt der Theologe und Psychologe, sei „geradezu schizoid“. „Viele wissen, dass sie in vielerlei Hinsicht eine tolle Aufgabe haben: eine sinnvolle Arbeit, die Menschen hilft, eine sichere Bezahlung, ein hohes Maß an Selbstständigkeit, oft auch Freude an der Arbeit. Und gleichzeitig ist da der unglaubliche Zustand der Kirche.“

Grave meint damit keineswegs nur den Missbrauchsskandal, sondern auch die Frauen- und die Machtfrage, den Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen oder Homosexuellen, den Zölibat. „Das alles sind Themen, bei denen ich als aufgeklärter Westeuropäer und auch inhaltlich-fachlich nicht mitgehen kann.“ Dieses Dilemma berühre, sagt Grave, „die Identität“. Das, was Timotheus scheinbar belastet hat, eine gewisse Scham dem eigenen Laden gegenüber, ist heute sehr aktuell. „Und es führt nicht selten zu der Frage: Kann und will ich das durchhalten?“ Sich damit – auch in einer Supervision – aktiv auseinanderzusetzen, hält Grave für den richtigen Weg. „Viel besser als den der inneren Kündigung.“ Fragt sich nur: Was 
hilft aus dieser Situation heraus? 

„Ein einzelnes Rezept gibt es nicht“, sagt der Berater. Aber zusammenfassen könnte man es so: „Ich muss die Begeisterung des Anfangs pflegen!“ Und das geht auf vielerlei Weise. „Eine lebendige Christusbeziehung hilft“, sagt Grave. „Das innere Wissen, dass Gott mich in seine Hand geschrieben hat, dass ihm an mir liegt.“ Deshalb sei es für solche Mitarbeiter, die eher aus einer Begeisterung für die Jugendarbeit als für den Glauben einen kirchlichen Beruf ergriffen haben, oft schwieriger.

„Die eigenen Erfahrungen in der Jugendarbeit waren damals, als man selbst jung war, entscheidend wichtig, aber trägt das den Beruf auch später?“, fragt er. Wer deshalb ein spiritueller Mensch und mit Gott im Gebet verbunden ist, „öffnet damit einen Hahn zu der Quelle, die die Begeisterung weiterbrennen lässt“.

Ein anderer Rat: „Das, was gut war, was Freude macht, was gelingt, tief in sich einsinken lassen.“ Paulus mahnt: „Rufe dir ins Gedächtnis ...“. Erinnere dich an die guten Zeiten, damit du Kraft gewinnst für die weniger guten. Und das gilt für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohl genauso wie für Ehepartner, Eltern pubertierender Kinder, gefrustete Ehrenamtler oder gestresste Altenpflegerinnen. „Erinnere dich und lass die gute Erinnerung in dir wirken.“

Naivität zu verlieren, kann auch gut sein

Ein weiterer Ratschlag: Veränderungen zulassen. „Der erste Schwung ist manchmal auch ein bisschen naiv“, sagt Grave. „Da ist es wichtig, nüchtern hinzuschauen und die ganze Wahrheit zuzulassen.“ Denn aus Ernüchterung kann Neues wachsen. Ein neuer Schwerpunkt in der Arbeit, eine interessante Fortbildung. Aber auch ein neuer Rhythmus im Familienleben, realistische Erwartungen an die Ehe. Veränderungen bieten Potenzial – auch, um Schwung wiederzufinden.

Der nächste Tipp klingt sehr weltlich. „Sich selbst auch mal etwas Gutes gönnen.“ Das könne ein schönes Hobby sein, sagt Reinhard Grave, „oder auch mal ein schöner Rotwein“. Es sich mal gutgehen zu lassen, das sei „sowieso auch eine gute Theologie“. Schließlich wehe Gottes guter Geist nicht nur in Kirchenmauern, sondern habe „überall auf der Welt Spuren hinterlassen“. Diese Spuren dürfe man ruhig beim Fahrradfahren oder beim guten Essen entdecken. „Jesus hat es uns doch vorgemacht“, sagt Grave lächelnd. „Deshalb nannten ihn seine Gegner ja auch Fresser und Säufer.“

Sich etwas Gutes gönnen, das kann man natürlich auch geistlich. Exerzitien oder auch Pilgerwege, sagt Grave, seien ein guter Weg, beides zu verbinden: den Kontakt zu Gott und den Kontakt zu seiner Schöpfung.

Sich die Begeisterung des Anfangs bewahren: Damit könne man, sagt Grave, gar nicht früh genug anfangen. „Deshalb ist Supervision auch keine Krisenintervention, sondern gehört bei uns schon in die Ausbildung.“ Es sei wichtig, schon möglichst früh ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, „dass wir permanent Verantwortung dafür übernehmen müssen, unsere eigene Begeisterung zu nähren“. 

Denn sonst wird aus dem lodernden Feuer bald ein glimmender Docht und aus dem Geist der Kraft, den Paulus beschwört, ein Geist der Verzagtheit. Im Beruf, in Ehe und Familie, in Freizeit und Ehrenamt. Und da wieder rauszukommen, ist schwer.

Susanne Haverkamp