125 Jahre Bahnhofsmission am Berliner Ostbahnhof

„Bei uns ist jeder willkommen“

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Seit 125 Jahren wirkt in Berlin am Ostbahnhof die Bahnhofsmission, lediglich unterbrochen durch die NS-Zeit. Selbst in der DDR durfte sie als einzige Bahnhofsmission weiterarbeiten. Immer im Fokus: Der Dienst am Menschen.

Eine Tafel zur Erinnerung an die Gründung der Bahnhofsmission enthüllten beim Festakt (von links): Die Leiterin der Bahnhofsmission am Ostbahnhof, Ulrike Rauer, Diakonie-Präsident Ulrich Lilie, Anne Dietrich-Tillmann (Vorstand IN VIA Berlin), Caritaspräsident Peter Neher und Sven Hantel, Vorstand DB Station & Service AG. Die Tafel wurde anschließend an der Außenwand der Bahnhofsmission am Ostbahnhof angebracht.    Foto: Cornelia Klaebe

 

Wenn er nicht einschlafen kann, dann macht sich Gerhard T. auf den Weg, durch die Großstadt, mitten in der Nacht. „Ich wache jede halbe Stunde auf, und dann gehe ich zur Bahnhofsmission, weil die Leute hier nett sind und ich mich ein bisschen unterhalten kann“, erzählt der 80-Jährige.
Der Rentner ist einer von zwei Millionen Menschen, die jährlich eine der bundesweit 104 Bahnhofsmissionen aufsuchen. Seit 125 Jahren gibt es die Einrichtung. Sie wurde in Berlin erfunden: Das Jubiläum wurde jetzt in der Hauptstadt mit einem Festakt gefeiert, zu dem neben Bundesfamilienministerin Franziska Giffey auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller (beide SPD) und Erzbischof Heiner Koch sprachen (siehe unten).
 

Idee: Jungen Mädchen eine Perspektive bieten
1894 am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Berliner Ostbahnhof, gegründet, war sie „am Anfang von Frauen für Frauen gedacht“, erzählt Gisela Sauter-Ackermann, katholische Geschäftsführerin der ökumenischen Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission, dem bundesweiten Träger seit 1910. Frauen aus den katholischen, evangelischen und jüdischen Gemeinden wollten damit jungen Mädchen, die kurz vor der Jahrhundertwende aus ländlichen Gebieten auf Arbeitssuche nach Berlin kamen und Opfer von sozialer und sexueller Ausbeutung wurden, „eine Lebensperspektive bieten“.
Die Idee machte Schule: Vier Jahre später wurde eine zweite Einrichtung in München gegründet, mittlerweile gibt es sie auch in kleinen Städten. Die Kosten decken staatliche Mittel, Kirchensteuern und Spenden zu je einem Drittel. Die Räume stellt die Deutsche Bahn kostenfrei zur Verfügung. Längst hat sich die Klientel gewandelt, die Gäste sind nicht mehr nur junge Frauen – im Gegenteil: Zwei Drittel sind Männer, meistens im Alter zwischen 27 und 65 Jahren. Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit spielen in der Einrichtung keine Rolle. „Unsere Zielgruppe ist bunt gemischt. Jeder ist willkommen“, sagt sie.
Dazu gehören Reisende „mit Fahrkarte“, die am Bahnhof ein- oder umsteigen und dabei helfende Hände benötigen oder etwa ein akutes Problem wie ein verlorenes Portemonnaie haben. Diese machen bundesweit etwa ein Viertel aller Ratsuchenden aus. Und dann gibt es noch die Gruppe jener Menschen „ohne Fahrkarte“ mit existenziellen Sorgen, die wohnungslos, alkoholkrank, verarmt oder verzweifelt sind.
Eine Tasse Kaffee, ein Beratungsgespräch: 400 hauptamtliche Mitarbeiter gibt es bundesweit, dazu 2000 Ehrenamtliche, die ein offenes Ohr für die verschiedenen Anliegen haben, sei es ein verlorenes Handy oder den Rausschmiss aus der Wohnung. „Wir orientieren uns daran, was die Menschen brauchen“, sagt Sauter-Ackermann – je nach Zeit und gesellschaftlichem Umfeld ändere sich das auch. „Kids on tour“ heißt etwa ein aktuelles Programm, das sich daran anpasst, dass „Eltern heute getrennt leben oder die Großeltern in einer anderen Stadt sind“. 8500 Kinder, die zumeist übers Wochenende allein verreisen, werden jährlich durch Mitarbeiter der Bahnhofsmission begleitet.
 

Sorge um heimkehrende Soldaten und Flüchtlinge
Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg etwa waren es hauptsächlich zurückkehrende Soldaten oder Flüchtlinge, die in der Einrichtung beraten wurden. Dazwischen, zur NS-Zeit, wurden die Bahnhofsmissionen dicht gemacht. Bis zur Teilung Deutschlands betreute die Bahnhofsmission die „Intersektorenreisen“ zwischen Ost und West. Wegen des „unberechtigten Vorwurfs der Spionage für den Westen“ wurden die ostdeutschen Bahnhofsmissionen 1956 von der DDR bis zur Wende verboten – einzig die Station am Ostbahnhof schloss auch während der DDR-Zeit ihre Pforten nicht. Im Westen kamen in den 1960er Jahren die Gastarbeiter, seit 2015/16 sind es vermehrt auch Flüchtlinge.
Auffällig sei, dass „seit etwa elf Jahren der Anteil der Menschen, die mehrere soziale Probleme gleichzeitig haben, steigt – also etwa eine psychische Erkrankung, keine Arbeit und keine Wohnung“, so Sauter-Ackermann. Im Jahr 2008 machte deren Anteil demnach rund 40 Prozent aus, im Jahr 2017 waren es 55 Prozent. Auch gebe es gerade in den Metropolen immer mehr einsame Menschen, die sich an die Mission wenden. „Die mischen sich hier am Bahnhof in die Menge, wollen durch Beobachten teilhaben“, so die Geschäftsführerin. Manche hätten auch einen Hang zur Technik oder „lieben das Quirlige“.
Einer der Menschen, die nicht mehr mitkommen, ist Hans-Jürgen Guthold. Seit sieben Jahren lebt er am Ostbahnhof, arbeitete vor seiner Obdachlosigkeit etwa 15 Jahre als Altenpfleger auf einer Demenzstation. Früher hatte er ein Zuhause, ein Auto. Zwei Mal pro Tag kommt er jetzt zur Mission, um etwas zu essen und einfach mal irgendwo in Ruhe sitzen zu können – ohne dass ihn jemand verjagt. „Wir sind ja nicht als Obdachlose auf die Welt gekommen“, sagt er. Es könne jeden treffen.

 
Eröffnung der Wanderausstellung.
 
Zur Sache: Viel Lob aus Politik und Kirche zum Jubiläum
Mit einem Festakt haben Spitzenvertreter von Staat und Kirchen die Gründung von Deutschlands erster Bahnhofsmission vor 125 Jahren gefeiert. Die Bahnhofsmission schenke „menschliche Wärme und bewahre vor dem Alleinsein“, sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) bei der Feier am Berliner Ostbahnhof vor rund 600 geladenen Gästen. Es sei „wichtig, dass jeder Mensch, dem es gut geht, einen Blick dafür hat, wie es anderen geht“. Zudem sei die Bahnhofsmission eine „Erfolgsgeschichte der überkonfessionellen Zusammenarbeit“.
Die Bahnhofsmission erinnere daran, dass „man die Christen unmittelbar daran erkennen können muss, wie sie sind. Wie man das Salz in der Suppe schmeckt“, erklärte der Berliner Erzbischof Heiner Koch. Bahnhofsmission sei „purer Geschmack des Christentums“. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche im Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, bezeichnete die Bahnhofsmission als „Strahlkraft des Glaubens“. Nächstenliebe sei „kein Nebenprodukt, sondern Kern des christlichen Glaubens“.
Caritaspräsident Peter Neher betonte, die Bahnhofsmission „rückt diejenigen Menschen in den Mittelpunkt, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden“. Bahnhöfe „sind zentrale Knotenpunkte im Netz unserer mobilen Gesellschaft, an denen auch die sozialen Aufgaben unserer Zeit in besonderer Weise sichtbar werden“, so der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) würdigte das Engagement der Mitarbeiter. „Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement sind unverzichtbar und machen unsere Gesellschaft menschlich und sozial.“
Vor dem offiziellen Festakt wurde eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Gründung der Bahnhofsmission am Ostbahnhof enthüllt. Bahnchef Richard Lutz sicherte der Organisation am Freitag in einem neuen Grundlagenvertrag zu, dass die Deutsche Bahn weiterhin in über 100 Bahnhöfen mietfrei Räume für deren Arbeit zur Verfügung stellt. Zudem widmet die Deutsche Bahn der Bahnhofsmission zum Jubiläum eine Wanderausstellung, die zunächst im Berliner Ostbahnhof, danach in Dresden, Frankfurt am Main und weiteren Bahnhöfen zu sehen sein soll.
 
Von Lisa Konstantinidis und Nina Schmedding
 

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