Anstoß 37/22
Brillenlos
In meinem Sommerurlaub ist mir ein kostspieliges Missgeschick passiert. Durch die Verkettung unglücklicher Umstände fiel mir meine Brille in die Toilette. Allen Bemühungen zum Trotz war sie unwiederbringlich weg.
Nun brauche ich aber unbedingt eine Brille, wenn ich einigermaßen unbeschadet durch den Alltag kommen will.
Zum Glück habe ich noch meine Sonnenbrille. Ich konnte wieder klar sehen, nur alles etwas dunkler. Tagsüber war das während der sonnensatten Tage des Augusts hilfreich. Doch wenn man abends im Bett liegt und noch ein Buch liest, ist das schon ein komisches Gefühl.
Zwei Ereignisse sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Wir gingen am späten Abend noch an der Schlei spazieren, als ich einen großen Vogel auf dem Wasser sah. Er flatterte mit den Flügeln und war mir irgendwie unheimlich. Mein Herz puckerte vernehmlich. Sieh mal, so einen großen Vogel habe ich hier ja noch nie gesehen, sagte ich meiner Begleitung. Das quittierte diese mit einem „Quatsch, das ist die Fahne auf einer Boje“. An einem anderen Abend sah ich auf der Dachterrasse einige Sterne in der Dunkelheit. Wie überrascht war ich, als ich meine Sonnenbrille abnahm: Wow, der ganze Himmel war sternenübersät. Hätte ich meine Sonnenbrille aufbehalten, wäre mir dieser schöne Anblick versagt geblieben.
Beide Ereignisse gaben mir den Anstoß, weiter darüber nachzudenken. Welche Brille habe ich im übertragenen Sinne auf? Eine, die Sorgen und Probleme zu großen angstmachenden Ungeheuern aufbläht? Ungeheuer, die einen lähmen und die Kraft rauben, die es braucht, die Probleme in ihrer tatsächlichen Größe zu lösen? Wie schnell könnten dagegen diese Ungeheuer schrumpfen, wenn ich mal die „Brille“ abnehmen würde. Dieses gelegentliche Abnehmen der „Brille“ kann meinen Blick frei machen für all das, was da noch ist.