Begabungen erkennen und Gemeinde gestalten
Charismen richtig nutzen
Pfarrer Magnus Koschig (Zweiter von rechts) mit Gemeindemitgliedern: Die Charismen der anderen entdecken und fördern. Foto: Eckhard Pohl |
Herr Pfarrer Koschig, was sind Charismen?
Jeder Mensch ist an sich schon Charisma, Geschenk Gottes an die Welt, an die Kirche. Daneben sind Charismen von Gott gegebene Begabungen an jeden Einzelnen, dessen Ziel es ist, dem Leben zu dienen, Gutes für die Gemeinschaft zu tun. Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott seiner Kirche, unseren Gemeinden, die Charismen schenkt, die notwendig sind, um heute bei den Menschen zu sein. Ich als Priester möchte die Menschen begleiten, ermutigen und bestärken, ihre Begabungen, ihre Talente einzubringen.
Wie begründet sich das christliche Charismenverständnis?
Früher hatte ich ein „funktionales Charismenverständnis“, das heißt jedem Glied der Gemeinde ist eine Funktion zugeordnet. Paulus fängt in seiner Gerichtsrede (1 Kor 12) genauso mit den „funktionalen Geschichten“ an und schreibt auf: der eine heilt, der andere predigt. Dann kommt gleich im Anschluss der Vergleich mit dem Leib. Dass das Auge nicht zur Hand sagen kann, ich bin nicht auf dich angewiesen. Ich brauche dich nicht. Im Gegenteil. Dann kommt das, was meistens vergessen wird. „Gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand. Während die Anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ. Damit im Leib kein Zwiespalt herrscht.“ Was dahinter steht? Der Mensch an sich ist schon das Charisma. Jeder Mensch ist ein unendlich wertvolles Geschenk an die Gemeinschaft, denn in ihm kann ich Gott begegnen. Darauf weist Jesus hin, wenn er in der Gerichtsrede mahnt: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, dass habt ihr mir getan.“
Wie können Charismen in einer katholischen Gemeinde wirken?
Vorbild sind uns immer wieder Menschen mit besonderen Charismen, wie zum Beispiel Mutter Theresa. Sie sagte: „Ich bin ein Stift in der Hand Gottes, der einen Liebesbrief an die Welt schreibt.“ Dies fordert uns auf, mit gleichem Selbstbewusstsein unser Gott gegebenes Charisma zu erkennen und zu leben. Und sich damit auf Wesentliches zu konzentrieren.
Charismen wirken in den Gemeinden oft statisch oder auch zeitlich begrenzt. Je nachdem, wie die Mitglieder ihre Charismen erkennen, gibt es eine Ausstrahlung auf die Gemeinde. Wird ein Pfarrgemeinderat gewählt, gibt es ein beständigeres Einbringen von Charismen. Wird eine neue Krabbelgruppe benötigt, finden sich Menschen mit der Begabung diese anzuleiten. In der Pfarrei Carl Lampert Halle, in der 2009 ehemals sieben eigenständige Gemeinden zusammengefasst wurden, wurde der Pfarrgemeinderat zum Impulsgeber. Seine Aufgabe war es nicht, zuerst dafür zu sorgen, wer die Würstchen grillt, sondern pastoraltheologisch nach vorn zu denken.
Warum hat sich die Gemeinde entschlossen, bewusster auf die Charismen zu achten?
Jede Gemeinde arbeitet mit Charismen. Die Frage ist nur, ob das, was ich tue, auch mein Charisma ist. Geschieht nicht vieles, weil wir es so gewohnt sind, weil es gemacht werden muss? Um unser Handeln zu hinterfragen, haben wir einen Charismen-Kurs angeboten. Was ist wirklich mein Charisma? Bin ich ein Organisationstalent? Kann ich leiten? Kann ich ermutigen? Bin ich gastfreundlich? Wie kann ich das Charisma eines anderen entdecken und fördern?
Welche Chancen eröffnet charismenorientiertes Handeln in einer Gemeinde?
Wer das einbringt, was er gern tut (sein Charisma), der bereitet sich und anderen damit eine Freude. Ein Beispiel aus unserer Pfarrei sind die Filmgottesdienste, das heißt Gottesdienste mit Filmelementen. Unsere Gemeindereferentin Elisabeth Wanka machte eine Weiterbildung dazu und fand das genial. Sie fragte mich an. Ich hatte zunächst Bedenken. Wird es angenommen? Wie geht es? Weil Frau Wanka aber voller Begeisterung war, hat sie mich angesteckt. Es ist ein voller Erfolg. Mitte Oktober 2020 fand der 31. Gottesdienst dieser Art statt. Diese Form, miteinander Gottesdienst zu feiern, hat ein intensives Echo in der Gemeinde und weit darüber hinaus gefunden.
Welche Konsequenz hat der Blick auf die Charismen für ihr Gemeindeverständnis?
Menschen finden sich in den Gemeinden nicht zusammen, weil sie sich alle nett finden, weil sie ein Sympathisantenzirkel sind, sondern weil sie für sich erkannt haben, dass Christus ihnen ein Talent, eine Begabung geschenkt hat, die dem Leben und so der Begegnung mit Gott dient. Christus begegnen in mir, im anderen – vor allem in dem Menschen, der eine Not hat. Wie es der katholische Priester und Philosoph Eberhard Tiefensee gesagt hat: „Wem werde ich zum Nächsten?“ Sie tun sich zusammen, um Christus neu zu entdecken. Deswegen sind sie kein Freundeskreis und kein Sympathisantenzirkel. Sie sagen: „Allein bin ich zu schwach.“ Wir brauchen einander. Wir müssen einander ergänzen, weil jeder einen anderen Zugang zu dieser Wirklichkeit hat und deswegen tun wir uns zusammen und bilden Gemeinde, ob das jemals als Gemeinde anerkannt wird oder nicht, ist uns egal. Es geht nicht darum, Leute zu rekrutieren. Sondern es geht darum, das „für-andere-da-sein“ zu leben.
Wie passen unsere kirchlichen Strukturen und eine solche Charismenorientierung zusammen?
Der erste wichtige Schritt ist für mich, vom Gedanken wegzukommen, eine Institution oder eine Gemeinde aufrechtzuerhalten zu wollen. Wir brauchen Strukturen. Aber sie sind kein Selbstzweck. Es muss zuerst darum gehen, den Menschen zu dienen. Eberhard Tiefensee hat in Magdeburg in seinem Vortrag zur pastorale! im Jahr 2019 deutlich gemacht: Wir stehen vor einer „kopernikanischen Wende“. Wir müssen begreifen, dass nicht Christus da ist, wo die Kirche ist, sondern dass Christus da ist, wo der Mensch ist, in seinem „so sein“. Das müssen wir begreifen. Die Kirche muss sich zu Christus hinwenden. Der Weg dahin führt über die Charismen.
Das bedeutet dann eine radikale Umstrukturierung?
Radikale Umstrukturierung heißt, sich der Wurzeln zu besinnen, aus denen unser Glauben lebt. Wir sind als Kirche göttlichen und menschlichen Ursprungs. Unsere Grundstruktur ist Hierarchie, „Heilige Ordnung.“ Aber eine heilige Ordnung, die sich bewusst bleibt, was Jesus fordert: wer der Erste sein will, soll der Diener aller sein. Wenn Gott mir viele Gaben geschenkt hat, dann ist das nicht mein Verdienst. Dann traut er mir zu, dass ich sie einbringe in das Miteinander aller, dass ich bereit bin, mehr zu tragen als andere.
Unabhängig von Funktionen und Ämtern ist das Erste, was Kirche lernen muss, dass das große Charisma der Mensch ist, der mir begegnet. Die Strukturen der katholischen Kirche folgen einem hierarchischen Grundprinzip. Da gibt es den Papst und die Bischöfe und wir denken dies von oben nach unten, von Machtfülle bis hinab zu Ohnmachtserfahrungen. Das Prinzip, das Jesus aufgestellt hat, ist umgekehrt. Der, der am einflussreichsten ist, der, der die meisten Gaben bekommen hat, ist eigentlich am untersten Ende. Warum? Er hat die meiste Kraft, um die, die darüber sind, zu tragen. Die Hierarchiepyramide wird zu einer Pfahlwurzel. Das ist mir selbst bei den Charismen nicht deutlich gewesen, dass es dabei um den geht, der überhaupt nichts kann, der überhaupt nichts ist. Der überhaupt nicht in der Lage ist, zu sagen, ich habe mich verirrt, ich habe mich verrannt. Dem haben wir die größte Ehre entgegenzubringen. Dem muss ich zum Nächsten werden, der ihn trägt, bis er die tragende Kraft in sich entdecke. Wenn wir das tun würden, hätten wir die ganze Machtdiskussion in der Kirche nicht.
Interview: Constanze Wandt
Kurs zum Entdecken von Charismen: Bill Hybels: D.I.E.N.S.T. – Entdecke Dein Potential, Gerth Medien 2011; ISBN 9783865918666; 12,99 Euro