Thüringer Landesregierung arbeitet SED-Unrecht auf
Christen jetzt stärker im Blick
Bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts nimmt die Thüringer Landesregierung die Christen stärker in den Blick als bisher. Von „Christenverfolgung“ in der DDR will die Arbeitsgruppe aber nicht sprechen.
Es ist der dritte Bericht, den Thüringens Landesregierung nun zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vorgelegt hat – und erstmals kommen auch die Christen als Opfergruppe ausführlich vor. Auf Intervention der Kirchen konstituierte sich vor einem Jahr die sogenannte AG Christen. Sie soll Handlungsempfehlungen geben zur Aufarbeitung und Erforschung der religionsbedingten Diskriminierung und Verfolgung in Thüringen während der DDR-Zeit.
Vor allem in der Forschung scheint sich nun einiges zu tun: Laut Bericht ist auf Grundlage von drei Fachexpertisen ein Projekt auf den Weg gebracht, das historische und soziologische Aspekte in den Blick nimmt. Wesentlich soll es hierbei um „vertiefende Antworten zu der Frage gehen, ob und welche bis heute wirkenden gesellschaftlichen Folgen die in der DDR vermittelte ,wissenschaftliche Weltanschauung‘ verbunden mit den Maßnahmen der Alltagsdiskriminierung, der Infiltration und der Zersetzung hatte“. Fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung bestehe ein erkennbares Bedürfnis von Betroffenen und Opfern, „über Erlebtes und Erlittenes zu sprechen, dem gesellschaftlich Rechnung zu tragen“.
Welche Repressalien wirken bis heute nach?
„Uns ist es wichtig, dass die Aufarbeitung zwei Stoßrichtungen hat“, erläutert der Leiter des Katholischen Büros Erfurt, Claudio Kullmann, der in der AG mitarbeitet. „Es geht um biographische Aufarbeitung und den Blick zurück, ebenso um den Blick nach vorn: Welche Repressalien und Prägungen von damals wirken bis heute nach.“ Der Bericht führt aus, Betroffene sollten verstärkt zu einem offenen Umgang mit ihren Lebensbiographien und vor allem zum Gespräch über ihre Erfahrungen mit Alltagsdiskriminierung ermutigt werden.
Vorsitzende der AG ist die für DDR-Aufarbeitung zuständige Staatssekretärin Babette Winter (SPD). Sie hatte 2016 für massive öffentliche Empörung von Seiten der Kirchen gesorgt, als sie in einem Interview sagte, Christen seien in der DDR keine besondere Opfergruppe gewesen. Jetzt sagte Winter, sie sehe es als einen ersten Erfolg, dass der Themenbereich „Christen in der DDR“ nach Gründung der Arbeitsgruppe mit den Kirchen „aktiv angegangen“ worden sei.
Missverständliche Formulierung
Mit Blick auf die historische Dimension des Begriffs „Christenverfolgung“ habe die AG davon Abstand genommen, im Zusammenhang mit den Erfahrungen in der DDR allgemein von „verfolgten Christen“ zu sprechen, heißt es in dem Papier. Für missverständlich hält der Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Christian Dietrich, die Formulierung. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Landesregierung gegenüber Betroffenen erklären möchte, dass der Begriff „Verfolgung“ nicht zu ihrem Schicksal passe, so Dietrich gegenüber der in Weimar erscheinenden Mitteldeutschen Kirchenzeitung. Man solle vielmehr die Perspektive wechseln, schlug Dietrich vor: „Wenn die Exekutive ein Urteil fällt, dann sollte es die Rechtsverhältnisse in der DDR betreffen“. Die verfassungsmäßig zugesagte Glaubens- und Gewissensfreiheit habe es in der SED-Herrschaft nie gegeben. Opfer dieser Politik seien letztlich alle Bürger gewesen. „Ihres Glaubens wegen verfolgt wurden Einzelne, zeitweise allerdings in großer Zahl“, so Dietrich. (kna/epd/tdh)
Meinung: Christenverfolgung?
Matthias Holluba |
Es hat in der DDR keine Christenverfolgung gegeben. Verglichen mit der Christenverfolgung im Römischen Reich ist das richtig. Es ist auch richtig im Blick auf andere Ostblock-Staaten während des Sowjetkommunismus. In der Sowjetunion oder in der Tschechoslowakei etwa gingen die Machthaber deutlich radikaler gegen Christen vor. Insofern tut die Arbeitsgemeinschaft, die in Thüringen das SED-Unrecht gegenüber Christen untersucht, gut daran, auf den Begriff „Christenverfolgung“ zu verzichten.
Die Zahl derer, die hierzulande wegen ihres Glaubens inhaftiert oder Opfer von Zersetzungsmaßnahmen der Stasi waren, ist vergleichsweise niedrig. Demütigungen, Diskriminierung und Benachteiligung waren dagegen fast alltägliche Erfahrungen von Christen in der DDR – besonders in Schule und Beruf. Wer nicht zur Jugendweihe ging, riskierte sein Abitur. Und ohne SED-Parteibuch war die Karriereleiter kurz. Viele dieser Benachteiligungen haben Nachwirkungen bis heute. Nicht für jeden kam das Ende der DDR rechtzeitig, um seinen Lebensweg korrigieren zu können. Egal, wie man diese Benachteiligung von Christen nennt, auf ein Wort der gesellschaftlichen Anerkennung und eine Entschuldigung der Nachfolgepartei der seinerzeit politisch Verantwortlichen warten die Betroffenen bis heute.